BJF-Jahrestagung 2012
Mit Filmen lernen – Filmbildung zwischen Kino und Schule
Tagung für filminteressierte Jugendliche,
Fachkräfte der Jugend- und Kultuarbeit,
Lehrerinnen und Lehrer
8. – 10. Juni 2012
Wilhelm-Kempf-Haus, Wiesbaden-Naurod
Bericht
Hat die seit vielen Jahrzehnten erfolgreiche außerschulische Filmarbeit des BJF und seiner Mitglieder ausgedient, nachdem der lange geforderte Erwerb von Film- und Medienkompetenz nicht zuletzt dank der Initiative von Vision Kino – Netzwerk für Film- und Medienkompetenz endlich Eingang in die Lehrpläne aller Schularten gefunden hat?
Falls nicht, in welchem Spannungsverhältnis in Theorie und Praxis stehen diese unterschiedlichen Formen der Filmbildung heute, und wie lässt sich die Leidenschaft für das Kino auch in der schulischen Bildung wecken und erhalten? Diesen Fragen ging der Bundesverband Jugend und Film e.V. in seiner Jahrestagung 2012 in Wiesbaden-Naurod mit namhaften Referenten nach und kam zu wichtigen, wenn auch nicht völlig überraschenden Ergebnissen.
In seinem Einführungsreferat mit einem historischen Abriss zur Filmbildung in Deutschland erinnerte Klaus-Dieter Felsmann daran, dass das Verhältnis zwischen der synthetischen Kunstform Film und dem Bildungsbereich noch nie besonders einfach war, immer unter der Voraussetzung, dass der Film überhaupt als Mittel der Bildung und der Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen gesehen wurde und nicht als moralische Gefährdung. Die einen Pädagogen betonten den subjektiven Charakter der Filmrezeption, der sich nie auf einen einzigen Nenner bringen lässt, die anderen nahmen den Film eher als Mittel zum Zweck, als Einstieg in ein Thema oder sie suchten nach „objektiven“ Kriterien der Filmsprache, die später in der Notengebung überprüfbar und jederzeit abrufbar sind. Interessanterweise unterscheiden sich die beiden Ansätze später nicht wesentlich in der ehemaligen DDR und in Westdeutschland. Der fast in Vergessenheit geratene deutsche Pädagoge und SPD-Kulturpolitiker Adolf Reichwein, der aufgrund seines Widerstands gegen die NS-Diktatur 1944 ermordet wurde, war einer der ersten Repräsentanten, die den Filmeinsatz in der Schule nicht als didaktisches Hilfsmittel, sondern als eine Möglichkeit der Seherziehung sahen, wobei das emotionale Filmerlebnis eine Chance bietet, mitzudenken, zu vergleichen, eigene Gedanken zu entwickeln. Seiner Zeit weit voraus, formulierte er bereits damals einen ganzheitlicher Ansatz von Filmbildung, der in den vergangenen Jahren in Deutschland größere Verbreitung gefunden hat – und knapp sechzig Jahre später – ähnlich auch von dem französischen Filmpädagogen Alain Bergala formuliert wurde. Der historische Abriss machte zugleich deutlich, dass viele heutige Fragestellungen und Methoden nicht neu erfunden werden müssen, sondern auch schon früher erörtert und praktiziert wurden. Zugleich setzte er ein Zeichen der Hoffnung, dass es in der Zukunft gelingt, die subjektbetonte und die objektbetonte Filmpädagogik besser aufeinander abzustimmen.
Wie wichtig neben der rein „schulischen“ Filmbildung auch die persönliche Filmbildung sein kann, vermittelte der bekannte Kinderfilmregisseur Arend Agthe in seinem biografisch gehaltenen Referat auf sehr anschauliche Weise. Die eigene Filmbildung prägte ihn sowohl als Mensch wie auch als Filmemacher. Dabei spielten keineswegs nur pädagogisch wertvolle und „altersgerechte“ Filme eine entscheidende Rolle. Unabhängig von einem späteren Berufswunsch ist umfassende Filmbildung demnach ein Bildungsgut, das einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit nimmt. Auf den Kinderfilm bezogen plädierte Agthe anhand des immerhin noch als DVD verfügbaren amerikanischen Disney-Familienfilms „Sein Freund Jello“ (OT: Old Yeller, Regie: Robert Stevenson, USA 1957) – des ersten Kinderfilms, der ihn als Kind aus tiefster Seele angesprochen hatte – für eine „naturalistische Glaubwürdigkeit“ der Geschichte und ihrer Darstellung. Das bedeutet, es geht um wahre Gefühle einschließlich der Angst, um Geschichten aus der Alltagswelt von Kindern, in denen sich die Kinder bewähren müssen und in denen es sogar um Leben und Tod gehen kann, vorausgesetzt allerdings, der Film weist ein Happy End auf.
Ernst Schreckenberg ging in seinem Workshop der Frage nach, ob und wie sich Filmgeschichte und Filmklassiker jungen Menschen vermitteln lassen. Dabei betonte er ähnlich wie Agthe die Bedeutung der eigenen Filmgeschichte eines Menschen, also die Filme, die man gesehen hat und die einen persönlich stark geprägt haben. Aufgabe eines Filmpädagogen sei es, Jugendliche auch für Filmklassiker zu begeistern oder sie zumindest neugierig darauf zu machen. Das könne sowohl im Rahmen der Schule als auch in der außerschulischen Filmarbeit geschehen. Beispielsweise finden sich archetypische Erzählstrukturen, die für Jugendliche in ihrer Sozialisation eine besonders wichtige Rolle spielen – insbesondere die von Joseph Campbell und Christopher Vogler beschriebene „Reise des Helden“ – sowohl in aktuellen Fantasy- und Abenteuerfilmen des Mainstream als auch bei vielen Filmklassikern.
Der Medienpädagoge Manfred Rüsel wiederum verwies anhand zahlreicher anschaulicher Filmbeispiele aus der Filmgeschichte darauf, wie wichtig es ist, über das Wissen um die filmsprachlichen Mittel hinaus auch jedes einzelne Detail im Film in die Überlegungen bei der Filmanalyse wie auch bei der bewussten Rezeption eines Films mit einzubeziehen. Dafür muss man erst lernen, genau hinzusehen und hinzuhören. Mit wenigen Kinobesuchen oder einer exemplarischen Filmanalyse allein sei dieses Ziel allerdings nicht zu erreichen.
Parallel zu diesen und weiteren Workshops auf rezeptiver Basis zu aktuellen Filmen aus den Ländern des arabischen Frühlings sowie zu den „Durchblick“-Filmen des BJF bot Benjamin Wagener auch einen praxisbezogenen Workshop an, in dem die Teilnehmenden an einem Tag einen Film drehen und schneiden sollten. Da sich die einzige jugendliche Teilnehmerin unter lauter Vertretern der Generation 50plus, die zugleich die Hauptdarstellerin des Films war, durch einen Sturz verletzte, konnte der Workshop allerdings nicht wie vorgesehen mit einem fertigen Film abgeschlossen werden. Ein eher zufälliger Beweis dafür, dass praktische Filmarbeit zwar sinnvoll und sehr wichtig ist, aber mit vielen organisatorischen und strukturellen Herausforderungen zu kämpfen hat und nicht das unabdingbare und viel gepriesene Wundermittel ist, um Jugendliche für die Filmbildung zu begeistern.
In zwei Panels diskutierten neben den bereits zitierten Gästen Paul Hilpert, Dezernent beim Niedersächsischen Landesamt für Lehrerbildung und Schulentwicklung, Klaudia Kremser vom Kinder- und Jugendkino cinemagic in Wien, Dr. Bernd Kiefer von der Universität Mainz, mehrere engagierte Jugendliche des Medienprojekts Spinxx, Michael Elster vom Medienzentrum Wiesbaden, Sonja Giersberg von der Filmklappe Niedersachsen, Michael Kaden als Ländervertreter für Medienpädagogik im Schulausschuss der Kultusministerkonferenz, Petra Rockenfeller vom Kino Lichtburg Oberhausen und Maren Wurster als Vertreterin des bundesweiten Netzwerks Vision Kino über Aspekte und über Perspektiven der Filmbildung.
Die Bestandsaufnahme im ersten Panel zu den Aspekten der Filmbildung führte zu folgenden Ergebnissen:
• Allgemein bemängelt wurden die vielschichtigen Zwänge und oft noch mangelnden Freiräume für die Filmbildung in der Schule.
• Lehrer benötigen in der Regel Hilfe bei der Filmbildung, denn oft genug ist bei ihnen nicht einmal ein Grundwissen über die filmsprachlichen Mittel vorhanden. In der Lehrerausbildung haben sie bisher davon nichts gelernt.
• Der Spaß am eigenen Entdecken darf bei der Filmbildung über die curricularen Erfordernisse hinaus nicht zu kurz kommen.
• Uneinigkeit bestand darüber, ob Medienerziehung und Filmbildung nun als Pflichtfach eingeführt oder wie bisher als Schnittmengenfach gelehrt werden sollten. Dagegen war man sich einig darin, dass die Filmbildung ein – wenn auch sehr wichtiger Teil einer umfassenderen Medienbildung ist.
• Wenn Filmbildung in der Schule stattfindet, dann erfüllt sie eine ganze Reihe von Funktionen, von der Entwicklung sozialer Kompetenz über die Allgemeinbildung bis hin zur Herausbildung von Kommunikationskompetenz und moralischem Urteilsvermögen. Da Filmbildung so viele Funktionen erfüllt, darf sie nicht länger ein Schattendasein führen und muss aus der Nische heraus, in der sie häufig stattfindet.
• Den Jugendlichen des Spinxx-Projekts war es aus ihrer eigener Praxis heraus besonders wichtig, dass neben der schulischen Filmbildung auch die außerschulische Filmbildung stärker berücksichtigt und gefördert werden.
• Eine griffige und allgemein akzeptierte Definition von Filmbildung, die sich nicht nur auf die Schule beschränkt, kam von Dr. Kiefer: „Filmbildung geschieht dort, wo Menschen sich mit Leidenschaft mit dem Film beschäftigen und darüber austauschen.“ Mögliche Antworten auf die eingangs formulierten Fragen und Perspektiven für die Filmbildung ergaben sich im zweiten Panel der Jahrestagung nicht ganz überraschend, zumal durch die eingeladenen Gäste das Spektrum der Erwartungshaltungen und Bedürfnishaltungen breit gestreut war:
• Kino und Schule sind zwar zwei verschiedene Bereiche der Filmbildung, die nur in Einzelfällen zur Deckung kommen, die aber nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.
• Beide Formen und beide Begegnungsorte der Filmbildung haben ihre Berechtigung und sind wichtig. Medienbildung im übergreifenden Sinn, die über die reine Filmbildung hinausweist, sollte vor allem in der Schule stattfinden, künstlerisch-ästhetische Filmbildung liegt dagegen mehr im Aufgabenbereich von Kinos und Medienzentren.
• Die Leidenschaft für das Kino darf bei der rein schulischen Vermittlung von Filmbildung nicht auf der Strecke bleiben. Sie ist eine Grundvoraussetzung sowohl für den persönlichen Lernerfolg als auch für das Überleben des Kinos und eine lebendig gehaltene Filmgeschichte. Filmbildung darf daher nie abstrakt bleiben, sondern muss immer auch am Subjekt, an den jugendlichen Rezipienten ausgerichtet werden.
• Damit Filmbildung zumindest in ihren Grundzügen auch in der Schule stattfinden kann, muss diese aber darauf (noch besser) vorbereitet werden. Das ist nur dann möglich, wenn alle Lehrer auf ein Grundwissen zur Filmbildung zurückgreifen können, wenn auch die Schuldirektorate und nicht nur einzelne besonders engagierte Lehrer sich vom Nutzen der Filmbildung im Sinne des Erziehungs- und Bildungsauftrags der Schule überzeugen lassen.
• Auch das System Schule muss sich insgesamt noch verändern und flexibler werden, beispielsweise in Form von Ganztagsschulen. Dort könnten dann die erforderliche Zeit und auch das Geld zur Verfügung stehen, systematische schulische Filmarbeit zu betreiben, wobei auch auf außerschulische Fachkräfte der Filmbildung zurückzugreifen ist.
• Nicht zuletzt müssen auch die Kinos und Medienzentren besser lernen, über Einzelvorstellungen und die bundesweiten SchulKinoWochen hinaus noch umfassender mit den Schulen zu kooperieren.
Zum Abschluss der BJF-Jahrestagung fand die jährliche Mitgliederversammlung des Bundesverbandes Jugend und Film e.V. statt, bei der konzentriert und meistens einstimmig die grundlegenden Beschlüsse zur Arbeit des Verbandes gefasst wurden. Inhaltliche Themen waren u. a. die Beteiligung des BJF am Programm Bündnisse für Bildung und das Rainbow-Projekt gegen Schwulenfeindlichkeit, an dem der BJF gemeinsam mit Organisationen aus ganz Europa arbeitet. BJF-Mitglieder können das Protokoll der Mitgliederversammlung in der Geschäftsstelle anfordern.
Holger Twele