BJF-Jahrestagung 2015
Filme machen stark!
Erfahrungsräume gestalten – Mehrwerte schaffen: Filmveranstaltungen mit Kindern und Jugendlichen
Tagung für Fachkräfte der Jugend- und Kulturarbeit,
Lehrer*innen und filminteressierte Jugendliche
17. – 19. April 2015
Wilhelm-Kempf-Haus, Wiesbaden Naurod
Bereits 93 „Movies in Motion“-Projekte hat der Bundesverband Jugend und Film e. V. (BJF) gemeinsam mit seinen Mitgliedern und Partnern in den letzten 20 Monaten erfolgreich an den Start gebracht. Anhand von zahlreichen Praxisbeispielen aus diesen Projekten ging der BJF auf seiner Jahrestagung in Wiesbaden-Naurod der Frage nach, was die Kinder und Jugendlichen bei dieser Filmarbeit erleben und erfahren: Was hat sie dadurch stärker gemacht und worin besteht der filmspezifische Mehrwert dieser Veranstaltungen?
Den Impulsvortrag zur Reflexion der bisher geleisteten Arbeit hielt Prof. Dr. Sebastian Schädler von der Evangelischen Hochschule in Berlin. Seiner Ansicht nach stellt sich die Frage, ob der Kinofilm als Medium des 20. Jahrhunderts dies auch im 21. Jahrhundert bleibe oder zumindest das Potenzial des Films neu definiert werden müsse. Der zunehmenden „Pädagogisierung“ der schulischen Filmarbeit erteilte er damit eine klare Absage und begründete dies mit einigen durchaus provokativen Thesen.
Das reflexive Potenzial des Films
Im 20. Jahrhundert diente der Film der „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ (Siegfried Kracauer) und der Reflexion der inneren Wirklichkeit (Traumebene) und er wurde zum ersten Hypermedium (Winfried Pauleit, Uni Bremen), das alle anderen Medien mit einschließt. Mit Hilfe des Films ließ sich das Verhältnis zwischen dem Individuum, seiner Umwelt, seiner Psyche und gegenüber den „anderen“ definieren. Das setzt ein Menschenbild voraus, das den Mensch als Wesen begreift, das anderen Menschen Geschichten erzählt, von anderen Geschichten erzählt bekommt und dadurch seine inneren Konflikte wie auch das Verhältnis zur Welt und diesen anderen gestaltet. Prof. Dr. Schädler zufolge war der Film lange Zeit wie kein anderes Medium in der Lage gewesen, dieses Menschenbild zu (unter-)stützen.
In den sich seit dem 16. Jahrhundert ausdifferenzierenden Gesellschaften ging die Pädagogik davon aus, dass den Kindern etwas zu vermitteln ist, was sie in die Lage versetzt, selbst etwas Neues zu schaffen. Es ging um Bilden und Ausbilden. Dieser Bildungsprozess war linear ausgerichtet, setzte eine (Lehrer-)Autorität voraus, die den Kindern etwas „beibringen“ kann und sie „kompetenter“ macht. Noch getragen von Fortschrittsgläubigkeit und Zukunftsgewissheit ist diese Art der Pädagogik heute in eine Krise geraten. In einer Zeit der vielfältigen Mediennutzung, die den gesamten Alltag durchzieht, kommen Hypertextstrukturen (Verbindungen zwischen Texten und Kontexten) zum Tragen, die jeden linearen Ansatz zur Ohnmacht verurteilen. Analog dazu wandelte sich die Beziehung zwischen Pädagogik und Film von der Exklusion hin zur Integration und Inklusion. Lange Zeit war der Film trotz seiner Affinität zu linearen Bildungsprozessen aus der Liste der pädagogischen Medien ausgeschlossen. Seine derzeitige Integration ist aber keine Verbesserung dieser Situation, geschieht sie doch in einer Zeit der Krise der klassischen Pädagogik. Der Film wird auf diese Weise einfach nur instrumentalisiert.
Auch im Bereich des Sozialen haben große Umwälzungen stattgefunden. Die soziale Verantwortung wird ausgeblendet, das Stammesdenken (Tribalisierung) nimmt zu, Vielfalt und Verflachung gehen Hand in Hand und die globale Medialität wird zur Sozialisationsinstanz. Das Soziale hat demnach keine Richtung mehr und das Universum wird zum Diversum. Ob das gut oder schlecht ist, bleibt offen. In offenen Situationen haben Medien die vorrangige Aufgabe, die Reflexionsfähigkeit zu bilden. Sie können und sollen nicht wieder „große Erzählungen“ anpreisen, die linear ausgerichtet sind.
Prof. Dr. Schädler leitet aus diesen globalen Entwicklungen seine zentrale These ab, dass der Film nur dann „stark machen“ kann, wenn sein reflexives Potenzial, „Stand“ mit „Bewegung“ zu verbinden, genutzt wird. Sinnbild dafür ist das Malteserkreuz, mit dem es erstmals in der Geschichte gelungen ist, aus 24 Standbildern in der Sekunde eine fließende Bewegung zu erzeugen. Dieser Reflexion müsse Raum und Räume gegeben werden, etwa anhand des BJF-Projekts „Movies in Motion“. Es gehe im Film des 21. Jahrhunderts nicht mehr um die „Geschichten“, die „Vorbilder“, das „positive Ziel“ in schwierigen Zeiten und für schwierige soziale Umstände. Die Krise dieser Vorgehensweise sei unumkehrbar. Film(bildung) solle sich daher von der Vereinnahmung für diese Pädagogik lösen. Das Potenzial des Films liege in seiner Ästhetik (Montage, Mise en Scène, Kameraführung, Ton und Licht usw.), nicht in seinen „pädagogisch wertvollen“ Inhalten.
Best-Practice-Präsentationen
Der Tagungssamstag war ausgewählten Best-Practice-Präsentationen aus dem BJF-Projekt „Movies in Motion“ vorbehalten, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung aus dem Programm „Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung“ gefördert wird. Die Präsentationen waren in die vier Bereiche Partizipation, Mädchen: Mit Filmen Mut machen!, Filmprojekte mit jungen Flüchtlingen sowie Heimat entdecken und mitgestalten unterteilt. Nähere Informationen zum Projekt „Movies in Motion“ und den vorgestellten Bündnissen vor Ort finden sich auf der Website: moviesinmotion.bjf.info
Ralph-Torsten Lincke von der „zukunftswerkstatt dresden“ meinte, die Grundlagen von Partizipation seien schwer zu erklären, da die Bündnisse und die Jugendlichen sich nur bedingt miteinander vergleichen lassen. Partizipation sei aber immer auch politisch zu sehen, muss die Gelegenheit bieten, sich einzumischen und mit zu gestalten. Die Jugendlichen müssen dazu bereits in die Planung eingebunden werden und es müssen Projekte entwickelt werden, die auch tatsächlich umsetzbar sind. Dafür braucht es starke Partner vor Ort und genügend Zeit.
Wie das praktisch funktioniert, erklärten Andreas Karthäuser vom Kreisjugendring Nürnberg und Johanna Schulzki vom Filmhaus Nürnberg anhand der Initiative „Little Big Films“, bei der Kinder ihr eigenes Kinderfilmfestival organisierten und präsentierten, also von der Filmauswahl über die Werbung bis zur Diskussion mit den eingeladenen Gästen alles selbst machten. Die sehr heterogen zusammengesetzte Gruppe lernte über das gemeinsame Ziel, sich mit dem Medium Film konstruktiv und nachhaltig auseinanderzusetzen und dabei auch Filme zu sichten und zu diskutieren, die man selbst wohl nie gesehen hätte, etwa „Bekas“ des kurdischen Regisseurs Karzan Kader (siehe Clubfilmothek, Durchblick-Film). Diesen Film stellte anschließend die Spinxx-Redaktion Münster vor, eine Gruppe von bereits medienerfahrenen Jugendlichen zwischen elf und 18 Jahren, die sich einmal wöchentlich trifft, um über aktuelle Kinofilme zu schreiben und sie manchmal auch mit anderen Gleichaltrigen zu sehen und zu diskutieren. Über diese Erfahrungen berichteten sie ausführlich, etwa wie schwer es solche als wichtig befundene Filme beim Publikum haben, weil sie so gut wie unbekannt sind, den gängigen Seherfahrungen nicht entsprechen und obendrein durch andere Kulturen und „Gepflogenheiten“ herausfordern. Beispielsweise wurden die Schläge, die beide Kinder im Film permanent von den Erwachsenen einstecken und die der ältere Bruder auch an seinen jüngeren Bruder weitergibt, von vielen als negativ bewertet, ohne den gesellschaftlichen Hintergrund und die kritische Haltung des Regisseurs mit zu berücksichtigen.
Wie wichtig es sein kann, einige Filmprojekte ausschließlich für Mädchen anzubieten, um ihnen Mut zu machen, zeigte Stefanie Hänsel vom Landschaftsverband Rheinland in Düsseldorf anhand des Projekts „Mädchenträume“, bei dem seit November 2014 zwölf Mädchen zwischen acht und zehn Jahren ihre eigenen Filme zum Thema entwickeln. Auf diese Weise können sie sich untereinander mehr öffnen und ihre ureigenen Filmstoffe realisieren. Sie lernen aber auch besser, mit der Technik hinter der Kamera umzugehen, Positionen, die sonst häufig – wenn auch nicht automatisch – von Jungen besetzt werden.
„Das Mädchen Wadjda“ von Haifaa al Mansour (ebenfalls Durchblick-DVD), der erste von einer Frau realisierte saudi-arabische Film überhaupt, gab dann ein Mut machendes Beispiel für die rezeptive Filmarbeit, wie es einem Mädchen gelingt, sich sogar gegen äußerst restriktive äußere Lebensumstände und gesellschaftliche Ausgrenzung durchzusetzen und ihren Traum von einem Fahrrad zu realisieren. Denn bislang war es Mädchen in Saudi-Arabien strikt untersagt, Fahrrad zu fahren und erst aufgrund dieses Films wurden die Verbote etwas gelockert.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um die europäische Migrationspolitik und des Zustroms an Flüchtlingen und Asylsuchenden gewinnen Filmprojekte mit jungen Flüchtlingen immer mehr an Bedeutung. Zwei dieser Projekte wurden vorgestellt. Gesa Becher von der Hamburger Gemeinwesenarbeit St. Pauli betonte, wie wichtig es ist, dass diese Jugendlichen selbst eine Stimme bekommen, sich und ihre Probleme auf filmische Weise artikulieren können. So persifliert der Kurzfilm „Beeman“ das Superman-Motiv mit drei individuellen Flüchtlingsgeschichten und stellt diese in eine Rahmenhandlung, die behördliche Willkür anhand von Aufenthaltsbewilligung, Fahrkartenkontrollen und reiner Schikane aufzeigen. Noch mehr vorgenommen hat sich das Jugendwerk der AWO Nordhessen. Christian Schwappach von der Gruppe Filmreflex Fulda wollte mit dem in Naurod anwesenden Edris Tajzai und anderen jungen Flüchtlingen einen ganzen Spielfilm drehen, halb Flüchtlingsdrama, halb Liebesgeschichte. Der vielversprechende Trailer dazu ist bereits fertig und obwohl einige der Flüchtlinge schon nicht mehr in Fulda sind, möchte die Gruppe unbedingt weitermachen.
Junge Flüchtlinge kann ein Filmprojekt darin unterstützen, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Aber Filmarbeit lohnt sich auch für Jugendliche, die schon immer hier leben, beispielweise in Uslar, einer niedersächsischen „Kommune im ländlichen Raum mit wenig Dynamik“. Der dortige Stadtjugendpfleger hat daher mit Jugendlichen ein Kinoprojekt ins Leben gerufen, das die Filmkultur in den kinolosen Ort zurückbringen möchte und elf von den Jugendlichen ausgewählte Filme an neun verschiedenen (Erlebnis)Orten präsentierte.
Insgesamt waren die Tagungsteilnehmenden überrascht und begeistert von der sehr großen Vielfalt an Themen und Projekten, die von engagierten Menschen in ganz Deutschland mit Hilfe des BJF-Programms „Movies in Motion“ durchgeführt werden. Auf diese Weise haben bereits ganz unterschiedliche Gruppen Kontakt zum BJF gefunden. Viele der Projekte, die neue Ansätze bieten, über das Medium Film mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, sollen fortgeführt werden.
Supervision und Reflexion
Zum Abschluss wurde Dr. Julia Eksner, Professorin für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences, um ein Resümee zur Tagung gebeten. Die Expertin mit den Fachgebieten Bildungsverläufe und soziale Teilhabe am Lebenslauf konstatierte, dass in allen vorgestellten Projekten Interaktivität und Partizipation im Mittelpunkt stehen, dass aber interaktive Filmformate weitgehend ausgespart blieben. Hier sei der BJF gefordert, sich Gedanken darüber zu machen, wie man mit solchen Formaten in Zukunft umgehen wolle, wie sie nutzbar gemacht werden und die bisherigen Formate vielleicht auch ergänzen können.
Auch die Reflexion zum Thema „echte“ Partizipation lässt sich noch weiter vertiefen. Scheinbar wollen Jugendliche nicht immer aktiv mit entscheiden, zeigen dann aber plötzlich kein Interesse mehr am Projekt. Erwarten wir also zu sehr, dass Kinder vorgepresste Formate automatisch spannend finden? Folgen wir wirklich den Bedürfnissen der Kinder oder wollen wir eigene Formate realisieren, die wir den Kindern dann „verkaufen“ wollen? Geben wir ihnen also Partizipationsmöglichkeiten an die Hand, die sie eigentlich gar nicht wollen? Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Erwachsenen in ihrer Mediensozialisation noch von alten Formaten geprägt wurden, Kinder heute aber mit vielen Formaten und Techniken arbeiten wollen.
Zur Medienarbeit mit „verletzlichen“ Gruppen wie etwa jungen Flüchtlingen merkte sie an, dass solche Projekte keinesfalls ü b e r diese Gruppen, sondern ausschließlich m i t diesen Gruppen erfolgen dürfen. Dadurch stellen sich neue Herausforderungen im Umgang mit deren Geschichten und Erfahrungen. Es gilt, die Grenzen unbedingt zu wahren. Keinesfalls sollte der Deckel zu ihrem „Trauma“ aufgemacht werden. Bei der pädagogischen Filmarbeit mit ihnen geht es allein um ihre Stärkung. Die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und ihrer Erlebnisse dagegen ist Sache eines Therapeuten, was eine mögliche Zusammenarbeit mit ihm in einem Filmprojekt nicht ausschließt.
Die rezeptive Filmarbeit dreht sich häufig auch um fremde Kulturen und „das Andere“, zumal wir uns in Deutschland als multikulturelle Gesellschaft begreifen, was den Alltagsbezug bereits impliziert. Der Umgang mit dem Fremden ist also wichtig, aber dabei darf das Fremde nicht noch fremder werden, wenn wir uns auf Vorurteile und Stereotype festlegen, von „kulturellen“ Eigenschaften und Besonderheiten reden und diese unreflektiert an die Kinder weitergeben oder diese bei ihnen unbewusst bestätigen. Angebote für Workshops könnten zur Sensibilisierung von eigenen Vorurteilen oder gar unterschwelligem Rassismus beitragen.
Zur Inspiration gab Prof. Dr. Julia Eksner den Teilnehmenden mit auf den Weg, sich noch weitere Tools anzueignen, die für die kulturelle Filmarbeit genutzt werden könnten und kollaborative Lernformen mit interaktiven Formaten ermöglichen. Abgesehen davon darf Film mal „einfach“ nur ein Erlebnis sein. Die Medienpädagogik wäre zudem gut beraten, noch mehr Projekte für spezielle „Problemlagen“ zu entwickeln. Vor allem aber sei Medienpädagogik immer auch als eine Form von politischer Bildung zu begreifen, etwa über Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, und das erfordere nicht nur gute Absichten, sondern auch Vorwissen.
Sicher muss man nicht mit allen Ansichten und Thesen der Referierenden 100%ig übereinstimmen oder hat in eigenen Projekten abweichende Erfahrungen gemacht. Dennoch werden diese Anregungen zur weiteren Auseinandersetzung beitragen. Das war Aufgabe und Ziel dieser BJF-Jahrestagung – und das ist ihr und den eingeladenen Gästen auf jeden Fall bestens gelungen!
Holger Twele