Dokumentation: BJF-Jahrestagung 2024
Über_Leben
Krisen und Utopien in Kinder- und Jugendfilmen
19. - 21. April 2024, Wilhelm-Kempf-Haus in Wiesbaden
Von welcher Utopie träumst du? Wie stellen wir uns unsere Zukunft vor? Wie finden wir ineiner Welt der Multi-Krisen zueinander und entwerfen gemeinsame Bewältigungsstrategien? Wie sprechen wir mit Kindern und Jugendlichen über Themen, die uns Angst machen und für die wir selber keine Lösung haben? Diesen und weiteren Fragen hat sich die Jahrestagung 2024 genähert.
Eine Dokumentation von Emily Winkelsträter.
Die BJF-Jahrestagung 2024 war geprägt von tiefgründigen Diskussionen, inspirierenden Filmen und einem regen Austausch über die Kraft des Films hinsichtlich der Bewältigung von Krisen. Mit einem Blick auf Utopien und Hoffnung zeigte die Tagung, wie der Film als Medium dazu beitragen kann, junge Menschen zu stärken und Visionen für eine bessere Zukunft zu entwickeln. Zudem war die Beteiligung junger Menschen in diesem Jahr besonders hoch: Alle Filmgespräche wurden von Mitgliedern der FBW-Jugend Filmjurys aus Chemnitz, Frankfurt und Münster vorbereitet und geführt.
Den Auftakt am Freitag machte der Film "Wo ist Anne Frank?" (2021, Regie: Ari Folman), einem Animationsfilm, der die Geschichte Anne Franks aus der Perspektive von Kitty, Annes Fantasiefreundin, an die sie sich beim Tagebuchschreiben wendet, erzählt. Im anschließenden Filmgespräch, moderiert von Lotte und Paul Dorner (FBW-Jugend Filmjury Frankfurt), wurde angeregt über die Darstellung von Flucht, über Erinnerungskultur sowie über die ‘Banalität des Bösen’ diskutiert. Wie schon im Film wurden auch im Gespräch immer wieder Parallelen zwischen den Erfahrungen Anne Franks und aktuellen Realitäten und Fluchterfahrungen von jungen Menschen in der heutigen Zeit gezogen und die Aktualität der Thematik betont, woraus die anschließende Frage resultierte, wie man das Thema Flucht zielgruppengerecht in der pädagogischen Filmarbeit behandeln kann. "Wo ist Anne Frank?" ist ein gutes Beispiel, ein Plädoyer für Humanismus und Menschlichkeit, wie das Publikum fand, und fungierte somit als treffender erster inhaltlicher Einstieg in die Thematik der Tagung.
Eröffnung & Startimpuls
Im Anschluss erfolgte die offizielle Begrüßung durch Günther Kinstler (Vorsitzender BJF) und Leonie Rieth (BJF, Referentin Öffentlichkeitsarbeit) mit einer freudigen Nachricht: In diesem Jahr haben Mitglieder der FBW-Jugend Filmjurys aus Chemnitz und Frankfurt erstmals das Filmprogramm mitkuratiert! Damit konnte der Wunsch, junge Menschen noch stärker in die Tagung zu involvieren, erfolgreich umgesetzt werden.
Anschließend bot Miriam Zeleke (Landesbeauftragte für Beteiligung und Förderung von Kindern und Jugendlichen) einen einführenden Impuls, der die Bedeutung von Filmen in der Auseinandersetzung mit Krisen betonte. "Junge Menschen sind Expert*innen ihrer Lebenswelt." Im Film stecke die Kraft der Distanzierung, aber auch die Kraft der Empathie, des Sich-Einfühlens sowie die der bewussten Auseinandersetzung. Unsere Aufgabe als Erwachsene sei es, diese Auseinandersetzung mit den Kindern gemeinsam zu üben.
Der Dokumentarfilm "Rise Up" (2022) zeigt facettenreich die unterschiedlichen Ausdrucksformen aktivistischer Kämpfe für eine soziale, solidarische und antikapitalistische Gesellschaft. Durch das Begleiten verschiedener Aktivist*innen erzählt er Geschichten des erfolgreichen Nichtaufgebens, macht Hoffnung und gibt den Zuschauenden vielfältige Handlungsmöglichkeiten an die Hand. Im anschließenden Filmgespräch – moderiert von Paul Dorner und Kolya Keilbar von der Jury aus Frankfurt – erklärt Regisseur Luca Vogel über den Entstehungsprozess und den Versuch, einen Film zu machen, der nicht nur problemfokussiert ist, sondern der es schafft, einmal die Perspektive zu wechseln und nah bei den Protagonist*innen und ihren Geschichten zu bleiben. Gemeinsam wurde über die Frage reflektiert, wie Film politisches Engagement beeinflussen kann.
Den Programmabschluss für den ersten Tagungstag machte der Spielfilm "Mein Totemtier und ich" (2022, Regie: Sander Burger), der das Thema illegale Einwanderung und Asyl behandelt. Durch die starke Protagonistin Ama macht der Film Mut, nicht aufzugeben und erinnert daran, dass man nie alleine ist.
Bei einem Mix & Mingle klang der Tag in entspannter Atmosphäre aus.
Der zweite Tagungstag startete mit einer morgendlichen Yogaeinheit und der Filmvorführung von "Dounia und die Prinzessin von Aleppo" (2022, Regie: Maria Zarin, André Kadi), der in der Fassung mit deutschem Voiceover, produziert vom BJF, Deutschland-Premiere feierte. Die Sprecherin Ulrike Seyffahrt saß als Tagungsgast ebenfalls im Publikum. Im Anschluss folgte eine intensive Filmbesprechung unter der Leitung von Leonie Rieth und moderiert von Victoria Fuhr, Sophia Assmann, Julius Ahlers, Mathilda Kliegel, Milla Rademacher und Jasper Lanckohr (alle von der FBW-Jugend Filmjury aus Münster und mit 12 Jahren die jüngsten Tagungsgäste) Es entstand ein offener Austausch über die Frage, ab wann es sinnvoll ist, mit Kindern über Krisen zu sprechen und ob diese nicht schon viel früher darüber aufgeklärt werden sollten, was in der Welt passiert. Die Meinungen im Publikum dazu waren ambivalent, was die Konfrontation mit der Härte von Lebensrealitäten im Allgemeinen und Fluchterfahrungen im Speziellen angeht. In Bezug auf den Weg, den der Film wählt, waren sich die Teilnehmenden aber einig: Der Film hat eine gute Lösung in der Darstellung und Behandlung der schweren Thematik gefunden, indem er an bestimmten Stellen bewusst Bilder auslässt oder Inhalte und Abläufe verschönt, um das Thema Kindern mit der richtigen Sensibilität näher zu bringen.
Workshops
Am Mittag fanden drei Workshops statt, die verschiedene Ansätze zur Kommunikation über Krisen und zum Empowerment von Kindern und Jugendlichen behandelten.
- Workshop 1: Wie rede ich mit Kindern und Jugendlichen über Krisen? – Miriam Zeleke (Hessische Beauftragte für Förderung und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen)
- Workshop 2: Empowerment – Konstruktive Ansätze finden in dunklen Zeiten – Selma Maglic (Medienpädagogin und Fotografin)
- Workshop 3: Wie aktivieren, statt deprimieren? – Vom Videoaktivismus zum politischen Langfilm – Luca Vogel (Filmemacher/Rise Up)
Die Präsentation eines Best-Practice-Filmprojekts durch Marten Duck (Medienpädagoge) und Netzwerktreffen und Vorstellung des Förderprogramms Movies in Motion – mit Gundel Breuer (BJF) und Sandra Weires-Guia (BJF) boten Raum für den Austausch über erfolgreiche Methoden in der Filmarbeit mit jungen Menschen.
Im Filmgespräch zu "Vergiss Meyn nicht" (2022, Regie: Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff), moderiert von Charlotte Schmidt und Alma Schilder (FBW-Jugend Filmjury Chemnitz), ging es um die Frage ‘Wie reagiert man filmisch auf Themen wie Tod und Verlust?’ Nach inhaltlichen und persönlichen Einblicken in die Filmarbeit durch Regisseurin Fabiana Fragale lobte das Publikum anerkennend die Sensibilität des Films und die emotionale und aufwendige Aufbereitungsarbeit.
Panel
Ein weiterer Höhepunkt des Tages war das Panel "Filme machen als Über_Lebensstrategie", moderiert von Philipp Aubel (Junge Filmzene im BJF) und Emily Winkelsträter (Multiplikatorin und Filmemacherin), das mit inspirierenden Beiträgen junger Filmschaffender (Julia Feige, Rahel Jung, Vincent Rabas-Kolominsky) die Bedeutung des Films als audiovisuellen Raum für Utopien hervorhob.
Werkstatt der Jungen Filmszene – Kurzfilme und Gespräche zum Filmfestival
Der Kurzfilmblock, moderiert von Philipp Aubel (Projektleiter der Werkstatt der Jungen Filmszene), bot Rückblick auf die 58. und Vorschau auf die 59. Werkstatt. Auch hier war eine Vielfalt der Krisen vorherrschend: Von der Diskrepanz zwischen Identität und Gesellschaft, Ungleichheiten bis hin zu utopischen Narrativen. Die Filme "Crazy Garden Girls", "Zeit der Natur" und "Wir eure Medien" von jungen Filmschaffenden aus Kassel, Wieck a. Darß und Wiesbaden werden bei der 59. Werkstatt gezeigt und geben wichtige Impulse zu aktuellen Krisen, Wünschen und Utopien. Themen waren Verschwörungserzählungen, die Klimakrise sowie ihre Folgen, die Frage danach, wie unsere Zukunft aussieht, oder auch der Wunsch nach mehr nutzbarem bzw. bespielbarem Raum, der zum Rückzugsort werden und vielleicht sogar bei der Bewältigung individueller Krisen behilflich sein kann. Bei den Filmgesprächen konnten sich die Teilnehmenden mit den Filmschaffenden intensiv austauschen.
Der letzte Film des Abends "Girl Gang" (2022, Regie: Susanne Regina Meures), ein Dokumentarfilm, der eine junge Influencerin auf ihrem Karriereweg begleitet und die Tiefen und Herausforderungen, die ihr dabei begegnen, portraitiert, bot viel Diskussionspotenzial. Das beklemmende Gefühl, das der Film eindrücklich beschreibt, wurde auch in den Wortbeiträgen der Teilnehmenden spürbar. Der Film sei ein Spiegel der Gesellschaft und gebe erschreckende Einblicke in das System Social Media. Es wurde ebenfalls an das Filmgespräch zu "Rise Up" hinsichtlich kapitalistischer Systeme und wie diese wirken, angeknüpft. Zentral war aber vor allem auch das Thema Druck, wie er sich aktuell auf junge Menschen auswirkt, welche Formen er annehmen kann und wie Filmarbeit ein Ventil schaffen kann, einen guten Umgang damit zu finden. Moderiert wurde das Gespräch von Lacey Melody Lockner und Paul Dorner (FBW-Jugend Filmjury Chemnitz und Frankfurt).
Tagungsresümee
Der letzte Tag begann erneut mit Yoga, gefolgt von einem Resümee der Tagung durch Leonie Rieth und Emily Winkelsträter, das die wichtigsten Erkenntnisse und Diskussionen noch einmal zusammenfasste und nochmal Raum für eine gemeinsame Abschlussreflexion bot.
Der Film "Dancing Queen" (2023, Regie: Aurora Gossé) und die anschließende Diskussion, moderiert von Arianna Frischmann und Nele Singer (FBW-Jugend-Filmjury Chemnitz), betonte die Wichtigkeit von Alltagskrisen und die Bewältigung dieser auf persönlicher Ebene und bot damit einen gelungenen Abschluss für die Tagung. Zeitgleich dazu fand die jährliche Mitgliederversammlung statt, um die Zukunft des BJF zu gestalten.
Krisen sind in unserem Alltag allgegenwärtig – seien es große existenzielle Ängste oder kleine Alltagsherausforderungen. Sie sind unangenehm, überfordernd und lösen vielleicht Gefühle der Ohnmacht oder auch Scham in uns aus. Im Prozess der Tagung wurde deutlich, wie hilfreich es sein kann, den individuellen wie kollektiven Krisen einmal Raum zu bieten. Wie gut es tun kann, mit anderen zu sprechen, sich auszutauschen, zuzuhören und im Kollektiv Lösungsstrategien zu erarbeiten. Vielleicht muss man Krisen groß machen, um sie dann gemeinsam kleiner werden zu lassen.
Es bleibt spannend, wie der BJF auch im kommenden Jahr die aktuellen Begebenheiten der Kinder- und Jugendfilmarbeit bearbeitet. Also jetzt schon den Termin für 2025 vormerken: 09. - 11. Mai 2025