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Dokumentation 2017
BJF-Jahrestagung

BJF-Jahrestagung 2017

Ich sehe was, was Du nicht siehst – Filme sehen, Filme zeigen

Objektive Sichtweisen eines Films gibt es nicht. Jeder Mensch sieht einen Film anders. Das hängt von der Filmerfahrung ab, von den persönlichen Lebensumständen, sicher auch von der betreffenden Generation und sehr stark von der eigenen Kultur und den eigenen Welt- und Selbstentwürfen. Was also macht das subjektive Filmerleben genau aus? Was sehen wir wirklich? Wie reagieren wir auf neue Filmformate? Und welche Auswirkungen hat das auf die filmkulturelle Arbeit? Diese Fragen wurden bei der diesjährigen BJF-Jahrestagung erörtert, die vom 5. bis 7. Mai in Wiesbaden stattfand.

 

Lisa Hausmann, Programmkoordinatorin der BJF-Jahrestagung 2017

 

Narration statt Irritation
Mit der technischen Weiterentwicklung und dem Vormarsch der Games-Welten in vielen audiovisuellen Bereichen ändern sich auch die filmischen Formen und das Rezeptionsverhalten von Filmen. Über diese Entwicklung berichtete Florian Schnell aus erster Hand- Mit seinem Film "Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel" verknüpfte er eine klassische Coming-of-Age-Geschichte mit der virtuellen Spiele-Welt und arbeitete eng mit einer Computerspielfirma zusammen. Seine Pionierleistung im deutschen Kinder- und Jugendfilm macht deutlich, dass sich die Formate in Zukunft immer stärker vermischen. Zugleich rief er zur Gelassenheit auf, denn nach wie vor geht es um gut erzählte Geschichten, "es geht immer um Narration".

 

Prof. Dr. Manuel Zahn

 

Der Blick des Films oder: "Filme sehen dich an"
Prof. Dr. Manuel Zahn von der Uni Köln hielt das Impulsreferat zur subjektiven Filmerfahrung, die gerade auch in der rezeptiven Filmarbeit von großer Bedeutung ist. Er überraschte sein Publikum mit einer molekularbiologischen Betrachtungsweise, um am Beispiel von Plasmiden (das sind meist ringförmige, autonom replizierende, doppelsträngige DNA-Moleküle) zu verdeutlichen, dass uns etwas "anblicken" kann, selbst wenn es keine Augen hat. Genau das passiert beim Sehen eines Films, denn wir sehen ihn immer nur in einem kulturell vorgegeben Rahmen und nach bestimmten Regeln, die ebenfalls kulturell geprägt sind. Wir müssen uns daher bewusst werden, wie "gerahmt" das eigene Sehen ist, wobei auch der Kinoraum als "medial vorstrukturierter Raum" bereits einen solchen Rahmen absteckt. Was wir sehen, ist immer nur ein kleiner Ausschnitt, der von der Inszenierung und der Auswahl mitbestimmt wird. Die materiellen und ökonomischen Bedingungen und die ästhetischen Entscheidungen etwa, die zu dieser Auswahl geführt haben, sehen wir meistens nicht. Mit anderen Worten: Unsere individuelle Sichtweise, die schon subjektiv genug ist, wird vom Film mitgeprägt, denn "was wir sehen, blickt uns an". Dementsprechend stehen Filmerleben und Filmverstehen in einem wechselseitigen Zusammenhang, was unweigerlich zu der Frage führt, ob man das – eine Einstellung, eine Szene oder den ganzen Film – nicht auch ganz anders hätte machen können. Das deckt sich mit den Forderungen des französischen Filmpädagogen Alain Bergala, der die Frage nach den ästhetischen Entscheidungen bei der filmkulturellen Arbeit immer mit einbeziehen möchte.
Für diejenigen, denen diese Betrachtungsweise noch zu theoretisch klingt, hatte Prof. Zahn ganz konkrete Handlungsvorschläge für die filmrezeptive Bildungsarbeit parat. In erster Linie forderte er: "Wenn wir die subjektive Seite der Filmerfahrung wirklich ernst nehmen, dann müssen wir den 'Blick des Films' gegen einen 'pädagogischen Blick' verteidigen." Der ästhetische Standpunkt dürfe sich daher nicht dem pädagogischen Zweck unterordnen. Daraus ergeben sich mehrere Konsequenzen:

  • Es ist wichtig, die Vielfalt der Erfahrungen von Film zu ermöglichen und das betrifft nicht die Orte, Medien oder Genres allein, sondern genauso die unterschiedlichen Filmästhetiken und Filmkulturen, etwa aus arabischen, indischen oder afrikanischen Ländern.
  • Auszuwählen sind bevorzugt Filme nicht mit den immer gleichen Geschichten, Figurenkonstellationen und filmsprachlichen Umsetzungsmethoden, sondern komplexere Filme, die neue Sichterfahrungen und Perspektiven ermöglichen.
  • Wie schon Alain Bergala in seinen Veröffentlichungen betonte, ist es mit sporadischen Filmbesuchen und jährlich ein oder zwei "Filmanalysen" längst nicht getan. Es bedarf vielmehr der langen und kontinuierlichen Beschäftigung mit Film, etwa in Form einer Werkstatt, wobei es verschiedene Angebote geben muss, das Medium zu reflektieren und sich mit Filmen auseinanderzusetzen. Dabei sollten die Themen (was wird gezeigt) mit der Filmform (wie wird es gezeigt) verbunden und die dahinterstehenden ästhetischen Entscheidungen hinterfragt werden.
  • Schließlich ist es wichtig, immer bei den individuellen Interessen und Fragen des Publikums anzusetzen, danach zu fragen, was man gesehen hat und warum man es so gesehen hat (induktive Methode). So lässt sich am besten lernen, wie man sich gegenseitig versteht und gemeinsam verständigt.
 

 

Empathie als Schlüssel des Filmemachens
Im seinem Workshop zur "Fremderfahrung Film" gab der Drehbuchautor Stephan Falk wertvolle Tipps für die filmpraktische Bildungsarbeit. Dabei orientierte er sich an seiner Leitfrage, welche Regeln zu beachten seien, um eine Geschichte erfolgreicher zu machen. Angesicht einer allgegenwärtigen umfassenden Mediennutzung gerade bei Jugendlichen bestehe heute das Problem, dass diese in visueller Hinsicht vieles schon einmal gesehen haben, wenn auch im Eiltempo und in immer kürzer werdenden Schnittfolgen. Die flüchtige Konsumierung dieser medialen Inhalte verleite jedoch zur bloßen Nachahmung. Dadurch bestehe die Gefahr, dass bei den eigenen Filmen und Erzählungen unreflektiert nur noch Klischees bemüht werden. Hinzu komme, dass insbesondere in der deutschen Schulbildung das Erzählen zugunsten der Analyse und der Erklärung „fast schon sträflich vernachlässigt wurde.“ Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung werde es daher schwieriger, mit einem Film noch die Neugier des Publikums zu wecken.
In jedem Fall spiegeln Geschichten das Weltbild, mit dem wir unsere Welt verstehen. In der westlichen Kultur ist dieses Weltbild von einer jahrtausendealten Tradition geprägt, dem des klassischen Dramas oder 3-Akters. Die Teile werden mit den Begriffen Exposition – Konfrontation – Aufklärung bezeichnet, wobei dies nicht notwendigerweise in chronologischer Abfolge geschehen muss. Da dieses Weltbild sich nicht ohne Weiteres verändern lässt, müssen andere Sichtweisen und Erzählformen entwickelt werden, um Spannung und Neugier zu erzeugen. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen Erwartung und Vorhersehbarkeit. Die Erwartungen des Publikums dürfen nicht vollständig enttäuscht werden, etwa bei einem Genre, andererseits führt eine vollständige Vorhersehbarkeit der Geschichte zu Langeweile und dem Ende von Spannung. Gleiches geschieht, wenn ein Film zu vieles erklären möchte und die Fantasie dabei zu kurz kommt.
Es ist am Ende die Empathie, die zum Schlüssel des Filmemachens und der Figurenzeichnung wird. Denn eine Handlung sollte emotional erzählt werden, unabhängig davon, ob die Figuren sympathisch wirken oder nicht. Daher sind es häufig Außenseitergeschichten, die uns bei einem Film packen, wenn das Wertsystem also nicht mehr richtig funktioniert und die Auflösung der Mangelsituation dann die Grundlage für den zweiten und dritten Akt der Filmhandlung bilden.

 

Jugend Filmjury Frankfurt

 

Sehen Jugendliche Filme anders?
Wie jede beliebige Gruppe von Menschen sehen auch Jugendliche einen Film subjektiv und unter den von Prof. Zahn genannten Voraussetzungen der eigenen Weltbilder und Sichtweisen. Allenfalls könnte man vermuten, dass Jugendliche noch nicht über so viel Filmerfahrung wie Erwachsene verfügen, aber das kann im Prinzip genau umgekehrt sein. In seinem Workshop wies wiederum Stephan Falk am Beispiel des Spannungsverhältnisses zwischen Erwartungshaltungen und Vorhersehbarkeit von Filmhandlungen darauf hin, dass viele Filme für ein junges Publikum immer noch nach den Erwartungsmustern von Erwachsenen gestrickt sind. Dabei wünschen sich gerade Kinder Originalität und Fantasie. Es macht also Sinn, der Frage auf den Grund zu gehen, wie Kinder und Jugendliche "ihre" Filme sehen.

Vor einigen Jahren hat daher die Filmbewertungsstelle in Wiesbaden (FBW) unter ihrer Leiterin Bettina Buchler neben der bewährten Prädikatisierungsarbeit der Erwachsenenjurys an acht verschiedenen Standorten in Deutschland auch eine FBW Jugend Filmjury ins Leben gerufen, in der jeweils zehn Jurymitglieder zwischen 10 und 14 Jahren neue Filme für die Zielgruppe noch vor Kinostart prüfen, bewerten und veröffentlichen. Im Rahmen der BJF-Jahrestagung stellte die FBW Jugend Filmjury aus Frankfurt ihre Arbeit anhand des Films "Mein Leben als Zucchini" vor und diskutierte die Ergebnisse im Anschluss mit Bettina Buchler, der Leiterin der FBW, und dem Publikum. Nach mittlerweile weit über 100 bewerteten Filmen lässt sich festhalten: Die Sichtweise von Jugendlichen entspricht keineswegs immer der von Erwachsenen und es ist gut und wichtig, diese Unterschiede mehr ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, was sich wiederum auf das zukünftige Filmangebot auswirken könnte.

 

JF-Vorstandsmitglied Norbert Mehmke (links) dankt dem Team der BJF-Geschäftsstelle (v.l.n.r.): Claudia Schmidt, Maren Ranzau, Leticia Rocha Dias, Reinhold T. Schöffel

 

Mit Ausnahme einiger der auf der Tagung vorgestellten Filme war vieles im Programm nicht gänzlich neu, sondern wurde ausgeführt und ergänzt, wie etwa die beiden Workshops zum Cinemanya Filmkoffer oder zum Netzwerktreffen "Movies in Motion". Gleichwohl ist es wichtig, sich immer wieder der Wurzeln und Grundlagen von filmkultureller Arbeit zu vergewissern, neue Tendenzen zu erkennen und das eigene Sehen, die subjektive Sichtweise, kontinuierlich zu reflektieren und zu hinterfragen. Dazu war die Jahrestagung gedacht und das hat sie ohne Einschränkung geleistet.

Holger Twele

Einzelne Projekte des BJF werden gefördert vom

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend