BJF-Jahrestagung 2016
Migration und Integration – Wie kann kulturelle Filmarbeit dabei helfen?
Tagung für Fachkräfte der Jugend- und Kulturarbeit, Lehrer*innen und filminteressierte Jugendliche
Wilhelm-Kempf-Haus, Wiesbaden Naurod, 15. – 17. April 2016
Die diesjährige Jahrestagung des BJF in Wiesbaden-Naurod stand ganz unter dem aktuellen Thema, wie kulturelle Filmarbeit bei Migration und Integration helfen kann. Der große Zuspruch auf die ausgebuchte Veranstaltung zeigte, dass dieses Thema genau richtig kam, denn es brannte den Teilnehmenden mit breitgefächertem Altersspektrum auf den Nägeln. Auf der noch um drei Workshops ergänzten Tagung stand die filmrezeptive Arbeit mit Filmen aus der BJF Clubfilmothek, der Reihe Durchblick und dem gemeinsam mit dem Goethe-Institut organisierten Projekt Cinemanya im Mittelpunkt neben zahlreichen Beispielen aus der filmpraktischen Arbeit von Movies in Motion bis zur Werkstatt der Jungen Filmszene.

In seinem Impulsreferat zu Beginn der Tagung wies Prof. Dr. Volker Hinnenkamp von der Fachhochschule Fulda darauf hin, dass die filmische Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht und Migration im deutschen Film bereits in den 1970er-Jahren begann. Bis heute seien dabei drei Phasen der Auseinandersetzung zu unterscheiden, die vor dem Hintergrund türkischer Migrantenschicksale exemplarisch an drei Filmen beschrieben und mit den Begriffen Monologisierung, Dialogisierung und Transdifferenz charakterisiert wurden. „Shirins Hochzeit“ (1975) von Helma Sanders-Brahms steht für die erste Phase, in der Integration noch ein Fremdwort war und Migranten in Deutschland weitgehend isoliert und ohne echte Kontakte zur einheimischen Bevölkerung lebten. Die Filmemacherin erzählt das Schicksal der jungen Türkin Shirin, die nach Deutschland kommt, um ihren Bräutigam zu finden, ganz aus monologischer deutscher Perspektive und in Form eines Betroffenheitskinos, bei dem Shirin fremdbestimmt zum reinen Opfer wird. 13 Jahre später sind in Hark Bohms Film „Yasemin“ (1988) die sogenannten Gastarbeiter in Deutschland fest angekommen, doch die kulturellen Gegensätze prallen hart aufeinander. Die Protagonistin sitzt buchstäblich zwischen zwei Stühlen, möchte sich den patriarchischen Strukturen ihrer Familie aber nicht mehr unterwerfen. Ein Dialog findet inzwischen statt, aber er ist von Gegensätzen bestimmt, die als eine Ausprägung der Kulturalisierung eine klare Entscheidung zugunsten der deutschen Kultur verlangen. Eine sogenannte Transdifferenz, wie es Prof. Hinnenkamp formuliert, findet erst in der dritten Phase mit den Filmen „Gegen die Wand“ (2004) und „Auf der anderen Seite“ (2007) von Fatih Akin statt, selbst ein Sohn türkischer Immigranten. Beide Seiten, die türkische wie die deutsche, werden erstmals gleichberechtigt dargestellt und es findet ein echter Austausch statt, bei dem sich die Menschen auf Augenhöhe begegnen können.

So erkenntnisleitend die Ausführungen von Prof. Hinnenkamp auch waren und Orientierung gaben, wie eine filmische Auseinandersetzung mit dem Thema heute aussehen kann, ohne in die Falle der Kulturalisierung zu tappen, darf nicht außer acht gelassen werden, dass jeder Film auch das Produkt seiner Entstehungszeit ist. Die genannten Filme der ersten beiden Phasen, die auch in der BJF-Clubfilmothek verliehen wurden, sind daher trotz ihrer Schwachstellen im Rückblick wichtig für eine Entwicklung gewesen, die konsequent von der Erkenntnis eines Problems über erste Lösungsversuche bis zu einem gleichberechtigten Austausch unterschiedlicher Kulturen und Interessen ging.
Wie steht es um das aktuelle Filmangebot des BJF?
Im erstmals ganz in Farbe herausgebrachten Verleihkatalog der BJF-Clubfilmothek finden sich allein 47 Filme, die für eine Arbeit mit Flüchtlingen unmittelbar geeignet sind. Mit den auf der Tagung vorgestellten neuen Filmen und Projekten stellte der BJF zugleich unter Beweis, dass er in dieser Hinsicht bestens aufgestellt ist. In den vergangenen Jahren erschienen bereits mehrere Durchblick-DVDs zum Thema, darunter auch die neue DVD „Ich bin jetzt hier“ mit vier Dokumentarfilmen für Kinder über Flucht und Migration. Sie stieß beim Publikum auf durchweg positive Resonanz, auch wenn sie kein Selbstläufer sein wird und für den Einsatz viel Engagement und gute Vorbereitung erfordert.
Bei dem Ende letzten Jahres gemeinsam mit dem Goethe-Institut aus der Taufe gehobenen Cinemanya-Filmkofferprojekt mit 18 deutschen Spielfilmen in arabischer Sprachfassung und zwei Kompilations-DVDs mit Kurzfilmen ohne Dialoge berichteten mehrere Filmkoffer-Paten von überwiegend positiven ersten Erfahrungen. Zudem lassen sich gerade die Kurzfilme des Koffers zusammen mit weiteren Kurzfilmen des BJF zu einem sehr flexibel handhabbaren eigenen Programm zusammenstellen, das speziell auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten werden kann. Unabhängig davon fanden sich auch in der mit einigen Filmbeispielen vorgestellten Werkstatt der jungen Filmszene mehrere Filme von Jugendlichen zum Thema.
Die von Prof. Hinnenkamp beschworene Transdifferenz von einschlägigen Filmen zum Thema findet sich in den drei auf der Tagung präsentierten Filmen, von denen zwei im Rahmen von „Movies in Motion“ entstanden. Jugendliche Flüchtlinge suchten undfanden darüber ihre eigene vergleichende Perspektive, die nicht mehr auf die Deutungs- und Interpretationshoheit aus rein deutscher Perspektive angewiesen ist. In „I am Here“, einem Film über das Ankommen in Deutschland unter der Workshop-Leitung von Sandra Merseburger und Hannah Marquardt aus Berlin berichten Jugendliche aus verschiedenen Herkunftsländern selbst über ihre Flucht, ihr Ankommen in Deutschland und ihre mögliche Zukunft.

In „Morgenland“, einem Filmprojekt mit unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen aus Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea und Somalia, die von der Abschiebung bedroht sind, begeben sich unter der Leitung von Thomas Kirchberg und Sonja Elena Schroeder diese Flüchtlinge gemeinsam mit Göttinger Jugendlichen in Selbstinszenierung auf die Suche nach sich selbst. Und in „Migrationsgeschichten – Mein doppeltes Erbe“ wird unter der Projektleitung von Lena Graser mit der Türkischen Gemeinde in Deutschland sogar ein Migrationsverband selbst aktiv, um mit Jugendlichen den Kontext von Migration, Identität und Heimat zu erforschen.

Kompetenzen und Erfahrungen
In drei parallelen Workshops konnten die Teilnehmenden ihre persönlichen Erfahrungen austauschen und zugleich neue Kompetenzen für die kulturelle Filmarbeit erwerben.
Philipp Schumacher stellte in seinem Workshop „kurz-filme.drehen“ verschiedene Apps vor, mit denen sich aktive Filmarbeit mit jungen Flüchtlingen durchführen lässt, selbst wenn man nur wenige Stunden dafür zur Verfügung hat und nicht wie bei „I am Here“ auf eine achtmonatige Filmarbeit mit wöchentlichen Treffen zurückgreifen kann. Mithilfe dieser Apps sind auch kurzfristige Arbeits- und Erfolgserlebnisse möglich, etwa mit „Vine“, das kostenlos erhältlich ist und auf allen bekannten Plattformen läuft, oder mit dem speziell für Apple konzipierten „iMovie“, das zudem wenig Sprache erfordert und 15 verschiedene Themen mit genauen Anleitungen zum Drehen bietet, den Rest für ein professionale aussehendes Ergebnis besorgt dann die Technik.
Der Workshop von Norbert Mehmke stellte den Cinemanya-Filmkoffer ausführlich vor. Einige der Filme des Koffers weisen deutliche Trigger-Elemente auf, die für traumatisierte Flüchtlinge problematisch sein können (siehe hierzu auch letztes Kapitel), aber nicht müssen, wie unterschiedliche Erfahrungen damit gezeigt haben. Da je nach persönlichen Vorerfahrungen grundsätzlich alles zum Trigger, also zum auslösenden Moment für eine traumatische Reaktion werden kann, kommt es in erster Linie auf eine Sensibilisierung für das Problem an. Filmdramaturgisch gesetzte Spannungsbögen und Entlastungsmomente sowie die Geschichte als Ganzes fallen oft stärker ins Gewicht, als einzelne möglicherweise belastende Szenen, die aus dem Zusammenhang gerissen sind. Im Workshop wurden darüber hinaus Vorschläge erarbeitet, wie sich die Koffer noch besser einsetzen lassen, etwas durch eine verstärkte Öffentlichkeits- und Werbearbeit. Schließlich wurde auch der Wunsch geäußert, das Projekt über 2016 hinaus fortzuführen und neben dem Arabischen weitere Sprachfassungen der Filme anzubieten.
Katharina Krüger und Felix Arnold stellten auf der Grundlage ihrer praktischen Filmerfahrungen mit dem Filmkoffer in ihrem Workshop universelle Methoden und Moderationstechniken für mehrsprachige Gruppen vor. Die Teilnehmenden erarbeiteten anhand von ausgewählten Filmen eigene Moderationsbeispiele und lernten, Zeichnungen, Gegenstände und Bilder zu nutzen, um das jeweilige Vorhaben zu vermitteln. Besonders für Kinder, die der deutschen Sprache noch nicht mächtig sind, ist es ihnen zufolge bei der Anmoderation wichtig, mit Gesten, Bildern und pantomimischer Körpersprache zu arbeiten, wobei der Einsatz von Stummfilmen eine weitere Option ist. Bei der Moderation kann und darf man auch Fehler machen und den Mut haben, Neues auszuprobieren. Angeregt wurde die Entwicklung einer Plattform mit positiven Erfahrungen, die dann von jedem genutzt werden kann. Sollte der vollständig abgedunkelte Kinosaal bei einigen jungen Menschen zum Problem werden, gilt es, hier notfalls Abstriche an eine perfekte Vorführqualität zu machen. Auch sollte unbedingt im Vorfeld auf heikle Szenen hingewiesen werden, ohne alle Details der Filmhandlung gleich zu verraten. Das wichtigste ist, einen Zeitraum zu schaffen, in dem sich das Publikum wohlfühlen kann.
Umgang mit Traumata
Filmdramaturgische und filmpädagogische Erfahrungen sind auch bei der kulturellen Filmarbeit mit Flüchtlingen und Migranten unabdingbar. Hinzu kommt die Sensibilisierung für mögliche Traumata, die durch einen Film angesprochen werden können. Elisabeth Peterhoff von der Stiftung Wings auf Hope gab hierzu wertvolle Hinweise.
Krieg, Flucht und Vertreibung gehören eindeutig zu den Big T-Traumata, die besonders schwer zu verkraften sind. Die Betroffenen geraten in eine traumatische Zange, die oft unbewusst abläuft und Gefühle der Hilflosigkeit, der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins erzeugt, was sich in vielerlei Symptomen niederschlagen kann. Die traumatische Zange wirkt sich insbesondere auf das eigene Selbstbild, die Beziehung zu anderen Menschen und das grundlegende eigene Weltbild aus. Filmpädagogen sind zwar keine Psychotherapeuten, aber sie sind gefordert, in der Arbeit mit Flüchtlingen die eingesetzten Filme sowohl kultursensibel auf einen versteckten Kulturalismus hin zu prüfen, als auch sensibel zu sein für eventuelle traumatische Reaktionen bei einzelnen Menschen im Publikum.

Im Rahmen der jeweiligen filmpraktischen und filmrezeptiven Projekte sollte man daher besonders darauf achten, das Sicherheitsgefühl der beteiligten Jugendlichen zu stärken, ihren Gemeinschaftssinn hervorzukehren und die Selbstwirksamkeit – „Ich kann etwas bewirken!“ – aktiv zu unterstützen. Wie wichtig dieses Sicherheitsgefühl nach Flucht und Vertreibung für die Projektteilnehmer ist, muss schließlich gerade auch gegenüber den behördlichen Stellen immer wieder vermittelt werden.
Sollte es bei Filmvorführungen durch bestimmte Szenen und Geräusche (Trigger) zu mit dem erlittenen Trauma verbundenen Reaktionen kommen, gibt es spontan mehrere Möglichkeiten, darauf zu reagieren: Man kann eine Reorientierung durchführen, den Rahmen der Veranstaltung klären, einen Ortswechsel durchführen, das Gefühl „Du bist in Sicherheit!“ geben. Auch sollte man betonen, dass die Reaktion ganz normal sei, aber das auslösende Ereignis in der Vergangenheit liege, und jede Form von Bloßstellung oder Peinlichkeit vermeiden.
Die Jahrestagung bot also zahlreiche Möglichkeiten und Praxisbeispiele, Sensibilität für mögliche Trigger zu schärfen, produktiv und verantwortungsvoll damit umzugehen. Falsch wäre dagegen eine Vermeidungshaltung, die in letzter Konsequenz das Ende einer jeden Filmarbeit bedeuten würde, denn zum Trigger kann alles werden. In seinen Kompetenzen und mit seinen aktuellen Projekten ist der BJF jedenfalls bestens aufgestellt, um den heutigen Anforderungen der kulturellen Filmarbeit auch mit Flüchtlingen gewachsen zu sein.
Holger Twele