Dokumentation: BJF-Jahrestagung 2023
Zwischen Pippi Langstrumpf und Riotgirls –
Rollenbilder im Kinder- und Jugendfilm
21. - 23. April 2023, Wilhelm-Kempf-Haus in Wiesbaden
Ziel der Tagung 2023 war es, Räume der Auseinandersetzung, der Reflexion, des kritischen Hinterfragens – einen Dialog – zu schaffen. Außerdem, in einem nächsten Schritt, der Frage nachzugehen, wie das Medium Film genutzt werden kann, um das Thema "Rollenbilder" in der Kinder- und Jugendarbeit zugänglicher zu machen.
Eine Dokumentation von Emily Winkelsträter.
Darstellungen in Filmen prägen unsere Wahrnehmung und Repräsentation schafft eine breitere und umfangreichere Darstellung unserer vielfältigen Gesellschaft. Sie kann damit häufig einen Erstkontakt bzw. einen Zugang zu anderen Lebensrealitäten bieten. Das gilt sowohl für Personen, die sich in Ihrer Identität bestärkt fühlen, aber auch für Personen, die durch die Charaktere ein anderes Verständnis für "ähnliche" Personen in ihrem Alltag erlangen.
Diversität ist zum Merkmal in der Filmlandschaft geworden, sie ist eine Kategorie auf Streaming-Plattformen. Die Darstellung von gesellschaftlichen Randgruppen bzw. marginalisierten Gruppen und Gemeinschaften, abseits von Nebencharakteren, bekommt seit einiger Zeit auch im deutschen Film immer mehr Raum. Aber diese steigende mediale Sichtbarkeit wirft zwangsweise auch einige Fragen auf. Wer zeichnet wen ab? Wer wird wie abgebildet? Gibt es eine ‘richtige’ Repräsentation? Wie beeinflussen Rollenbilder unsere Wahrnehmung? Mit all diesen Fragen und Aushandlungen wurde sich im Rahmen der diesjährigen Jahrestagung unter dem Titel "Zwischen Pippi Langstrumpf und Riotgirls – Rollenbilder im Kinder- und Jugendfilm" auseinandergesetzt.
Kurzfilme
Den Auftakt am Freitag machte eine Kurzfilmauswahl zum Thema Rollenbilder, die nicht nur durch die Vielfalt der bearbeiteten Themen herausstach, sondern auch durch die gewählten künstlerischen Herangehensweisen überzeugen konnte. Zentrale Themen waren dabei besonders Empowerment, Sexualität, Identität, Körper und körperliche Selbstbestimmung. Die Teilnehmenden bekamen somit erste thematische Impulse und konnten individuelle Zugänge durch Identifikation und Verknüpfungen zu eigenen Erfahrungen herstellen.
Begrüßung & Startimpuls
Nach einer Begrüßung durch Günther Kinstler (Vorsitzender BJF) und Leonie Rieth (BJF, Referentin Öffentlichkeitsarbeit) fanden die ersten besprochenen Filme in einem Startimpuls mit Bianca Rilinger (Leiterin der Inklusive OT Ohmstraße in Köln) und Melanie Leusch (Diversitätsbeauftragte der HOT Porz gGmbH), die "Die Importanz von Rollenbildern im Kinder- und Jugendfilm" beleuchteten, eine Einordnung aus pädagogisch-fachlicher Perspektive. Die Referent-innen unterstrichen, dass gerade das Medium Film ein großes Potenzial hinsichtlich der Darstellung von Vielfalt hat, die außerdem die Stärke innehält, Kindern und Jugendlichen diverse Identifikationsmöglich-keiten zu bieten.
Film: "Geschichten vom Franz"
Im ersten Spielfilm des Abends "Geschichten vom Franz" (2022, Regie: Johannes Schmid), wurden vor allem die Themen Mann-Sein, die damit verbundenen Rollenerwartungen, auch im Kontext der sozialen Medien, Anerkennung und Freundschaft besprochen. Im anschließenden Publikumsgespräch stießen Jakob Malisch und Lineke Lankenau von der FBW-Jugend Filmjury aus Frankfurt, die den Film vorstellten, einen Austausch darüber an, welche Potenziale der Film in der Kinder- und Jugendarbeit hat. Vor allem Fragen nach den Aushandlungen von Männlichkeit(en) und in Bezug auf das Thema Sprachfähigkeit, bzw. wie technische und digitale ‘devices’ dafür nutzbar gemacht werden können, sprachfähig zu werden, bot viel Gesprächsstoff.
Film: "Lola und das Meer"
Den Abschluss des ersten Tagungstages machte ein Film von Laurent Micheli - “Lola und das Meer" - in dem unter anderem beleuchtet wurde, wie Geschlechterrollen und -erwartungen in der Familie ausgehandelt werden. Im Fokus stand dabei Lola, die nach dem Tod ihrer Mutter, wieder in Kontakt mit ihrem Vater kommt, der den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte, weil er das Trans-Outing "seines Sohns" nicht akzeptieren konnte. Der Film baut entlang Lolas Geschichte und ihrer Erfahrungen mit und im Spannungsverhältnis zu ihrem Vater, Vorurteile ab und porträtiert gleichzeitig eine starke Protagonistin im Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen (geschlechtlichen) Identität und unterstreicht dabei gleichzeitig die Wichtigkeit des Dialogs, des Zuhörens und des Verstehens.
Film: "Der Weg von Hand und Fuß"
In den zweiten Tagungstag starteten die Teilnehmenden nach einer energetisierenden Yoga-Einheit mit dem Dokumentarfilm "Der Weg von Hand und Fuß" (2022). Der Film begleitet verschiedene Mädchen* unterschiedlichen Alters beim Taekwondo-Training und in ihren Prozessen Zugang zu ihrer eigenen inneren Stärke (zurück-)zu finden. Im Fokus stehen dabei die Erzählungen der Mädchen* und jungen Frauen*.
In der anschließenden Publikumsdiskussion bestand dann die Möglichkeit, mit den anwesenden Regisseurinnen Barbara Englert und Pola Sell, sowie der Protagonistin Steph Taibi ins Gespräch zu kommen. Wie wichtig solche geschützten Räume sind, wie Steph Taibi ihn geschaffen hat, in denen Themen wie mentale Gesundheit, Essstörungen, Gewalt-, Diskriminierungs- und Mobbingerfahrungen besprochen werden können und den jungen Frauen* vielleicht sogar Bewältigungsstrategien oder Handlungsoptionen mit auf den Weg gegeben werden, wird im Prozess des Films sehr deutlich. Auch die Teilnehmenden betonten im Anschluss die Wichtigkeit von Schutzräumen, in denen solche Begegnungen möglich sind und wo Mädchen sich mitteilen und Raum einnehmen können.
Das Publikum war beeindruckt von der Stärke der Selbstporträts der Mädchen* und zeigte große Anerkennung für die Arbeit der Filmschaffenden.
Workshop 1: Für ein Mädchen gehalten werden ist doch super – Geschlechterbilder im Kinderfilm von Annika bis Franz
In Workshop 1 mit Rochus Wolff (Filmkritiker & Autor) konnten die Teilnehmenden sich, zunächst anhand von Ausschnitten aus "Wall E" und der Frage, ob die Hauptcharaktere Wall-E und EVE ein Geschlecht haben, eigener Geschlechterprojektionen bewusst werden. Dabei fiel auf, dass obgleich die beiden Roboter kein Geschlecht haben, dennoch Zuweisungen durch die Beobachter*innen stattfinden. Im Kontext der Liebesbeziehung, die beiden Roboter im Film zueinander haben und der Geschlechtszuschreibungen der Teilnehmenden, wurde außerdem über binäre Geschlechtermodelle und Heteronormativität diskutiert.
Am Filmbeispiel "Pippi Langstrumpf" wurde der Diskurs um die Themen Stärke und Schwäche bei Mädchen erweitert. Rochus Wolff ordnete in seinem Workshop, auch den Begriff des "performing gender" ein, der meint, dass Geschlecht erst in der Interaktion und in einzelnen Handlungen entsteht. Es wurde konkret beleuchtet, welches Verhalten wir als typisch weiblich/männlich assoziieren und wie das im Film unterschiedlich ausgehandelt wird. Neben Wall-E und Pippi ging der Workshopleiter auch auf die Protagonist*innen im Film des vorherigen Abends "Geschichten vom Franz" ein, was erneut eine Diskussion der Frage "Was ist eigentlich Männlichkeit?" öffnete.
Das alte Filme, die in Teilen stereotype Rollenbilder eher verfestigen, als diese aufzulösen, nicht mehr geschaut werden dürfen, war nicht Ergebnis der Reflexion. Vielmehr war das gemeinsame Fazit des Workshops, dass Filme einer Einordnung in einen zeithistorischen Kontext bedürfen, also es zu reflektieren gilt, welche Geschichte ein Film hat und den Blick dann darauf zu richten, wie wir heute darauf reagieren. Es wurde der Gedanke eingeworfen, ob nicht vielleicht gerade diese Filme das Potenzial bieten, auch mit Kindern und Jugendlichen zusammen, die dargestellten Rollenbilder und -vorstellungen genauer und kritisch zu betrachten, zu hinterfragen und zu diskutieren.
Workshop 2: Rollenbilder in der kreativen Arbeit
Im Zentrum des Workshops von Duc-Thi Bui (Drehbuchautor) stand eine Methode, bei der es darum ging im Tandem einen Konflikt durchzusprechen. Dabei war ein Akteur die wissende Person, die nur mit Ja oder Nein auf die Fragen der nicht-wissenden Person antworten darf. Diese hat die Aufgabe zu versuchen herauszufinden, um welchen Konflikt es sich handelt. Auf den an die wissenden Personen ausgeteilten Konfliktblättern stehen allerdings gar keine Konfliktbeschreibung drauf, die Antworten sind also rein zufällig, d.h. der Konflikt entsteht erst im Kopf der unwissenden Person. Erst nachdem die unwissenden Personen im Plenum ihre Vermutungen mitgeteilt haben, wurde aufgelöst, dass es gar keinen Konflikt gibt. Auffallend war dabei, welche Projektionen und Schlüsse dort schon vorgenommen wurden.
In der Reflexion erzählt Duc-Thi Bui, dass er an der Methode besonders interessant findet, wie die Konflikte variieren, wenn die Methode in anderen Kontexten durchgeführt wird. Das verwundert nicht, denn die Teilnehmenden beschreiben oft, dass sie die Geschichte, die sie erfragt haben, so oder so ähnlich selbst erlebt haben und sie zum Teil noch immer beschäftigt. Die Verwendung der Methode hat also vor allem die Stärke, dass eine Reflexion über die eigenen Projektionen (etwas, das einen beschäftigt, Erfahrungen, Verfestigtes) stattfindet. Sie macht damit sichtbar, welche Vorerfahrung, verfestigte Rollenbilder und welches Wissen man mitbringt. Was dahinterliegend, aber vor allem sichtbar wird: Perspektivenvielfalt!
Vortrag: Vielfalt im Film – so wollen wir gezeigt werden!
Im anschließenden Vortrag mit Bianca Rilinger und Melanie Leusch ging es um Barrieren, Sensibilität und Reflexion der eigenen Privilegien, was wichtig ist um in seiner Arbeit, aber auch außerhalb, den unterschiedlichen Bedarfen von Menschen gerecht zu werden. Dabei machten sie auf die unterschiedlichen Dimensionen der Diversität ein (bestimmte Diversitätsmerkmale können zu Diskriminierung führen) aufmerksam und stellten verschiedene Methoden vor, die ein Zugang zur Thematik für eine jüngere Zielgruppe sein können.
Konzept diversitätssensible Workshops:
- Teil 1: Filmsichtung
- Teil 2: Filmbesprechung
- Teil 3: Benennen der Vielfalt im Film anhand vorher besprochener Diversitätsdimensionen (Was/wer kam vor, wie gut war die Person/das Thema repräsentiert und was viel hinten über, etc.)
- Teil 4: Reflexion
- Was wäre für euch ein perfekter Film?
- Was wünscht ihr euch?
- Was seht ihr als unterrepräsentiert an?
- Bewertung: Wie vielfältig ist der Film?
- Teil 5: Anwendung
- Nutzung Bilder und Piktogramme zur Erarbeitung von Vielfalt
- Gemeinsame Trailererstellung
Einen detaillierten Praxisleitfaden, Tipps & Tricks hat Bianca Rilinger in der Ausgabe 01/2023 der interaktiv plus der Landesarbeitsgemeinschaft Lokale Medienarbeit NRW e.V. zusammengefasst.
Podiumsdiskussion: Ethiken der Repräsentation
Die Expert*innen Duc-Thi Bui, Rochus Wolff, Bianca Rilinger, Melanie Leusch, Laura Caesar (freie Film- und Medienpädagogin) erzählten aus ihrer Alltagspraxis und ihren Bezügen zum Thema Repräsentation und gaben Impulse für die Arbeit im Prozess des Filmschaffens, sowie im Kontext der Kinder- und Jugendarbeit. Moderiert von Emily Winkelsträter (Multiplikatorin & Filmemacherin) und Sarah Rüß (Medienkulturwissenschaftlerin).
Werkstatt der Jungen Filmszene – Kurzfilme und Gespräche zum Filmfestival
Der zweite Kurzfilmblock der Tagung, moderiert von Philipp Aubel (Projektleiter der Werkstatt der Jungen Filmszene), bot Rückblick auf die 57. und Vorschau auf die 58. Werkstatt. Auch hier war eine Themenvielfalt vorherrschend: Es ging um Freundschaft, Eifersucht, Vertrauen, Streiten, Verzeihen, Vertragen und ums Entschuldigen.
Bei den Filmgesprächen mit Niklas Bauer ("Text me when you get home"), Theresa Rehe ("Stop Mansplaining") und Melika Rezapour ("The One-Way-Ticket") konnten sich die Teilnehmenden mit den Filmschaffenden intensiv austauschen.
Den Tagesabschluss machte der finnische Film "Girls Girls Girls" (2022) mit anschließendem Filmgespräch, moderiert von Kolya Keilbar, Lotte und Paul Dorner aus der FBW Jugend-Filmjury Frankfurt. Der Film handelte das Thema Verletzungen in (ersten) Beziehungen aus, normalisierte die Darstellung von mentaler Gesundheit und thematisierte Selbstfindung, weibliche Lust und Sexualität. In der anschließenden Diskussion fiel besonders die positive Repräsentation von Freundinnenschaft auf und die Bestärkung der Feststellung, dass Rollenbilder nicht immer positiv sein müssen.
Abschlussfilm: "100 Kilo Sterne"
Während die Mitglieder des BJF und alle Interessierten sich zur jährlichen Mitgliederversammlung zurückzogen, bestand für den Rest die Möglichkeit einen weiteren Film anzuschauen. Glaub an deine eigenen Ideen: 100 Kilo Sterne von Marie-Sophie Chambon ist bewegend und erreicht das Publikum mit seiner Leichtigkeit und Empathie. Im Zentrum des Films steht erneut stark das Thema der Freundinnenschaft, gegenseitige Unterstützung und Vorbild füreinander sein, aber auch der Prozess, den es braucht, um persönliche Ziele zu erreichen. Die Road-Movie-Erzählung komplementiert dabei diesen Prozess den die Protaginist*innen durchlaufen. Die Diversität der Akteur*innen wird durch Begegnung ausgehandelt, was einen stark empowernden Effekt erzielt. Besonders gefallen hat den Teilnehmenden, dass der Film in Bezug auf das Thema Selbstliebe den Druck rausnimmt. Er kommt nicht mit einer klaren Botschaft und verortet sich mehr in Richtung Selbstakzeptanz.
Tagungsresumee
Nach der sonntagmorgendlichen Yoga-Einheit am letzten Tag der Tagung ging es in die gemeinsame Abschlussreflexion angeleitet von Leonie Rieth. Die Teilnehmenden resümierten, dass Filme egal mit welcher Intention sie hergestellt oder vorgeführt werden, immer eine Wirkung haben, eine Vornahme tätigen und Rollenbilder transportieren. Des Weiteren wurde die tolle Filmauswahl durch die FBW-Jugendjury sehr gelobt und sich gewünscht, dass diese zukünftig weiterhin und noch stärker in den Filmauswahlprozess involviert wird. Ein Vorschlag war es, dass beide Jurys die Filme gemeinsam sichten könnten. Der BJF will sich dem unbedingt annehmen und die Wünsche umsetzen.
Es bleibt demnach bereits jetzt spannend, wie der BJF auch im kommenden Jahr die aktuellen Begebenheiten der Kinder- und Jugendfilmarbeit bearbeitet.