1970 bis 2020 – 50 Jahre Bundesverband Jugend und Film
Prof. Dr. Wolfgang Schneider

Prof. Dr. Wolfgang Schneider in Chemnitz
seit über 40 Jahren BJF-Mitglied, Gründungsdirektor des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland und des Instituts für Kulturpolitik der Stiftung Universität Hildesheim
Festvortrag zum 50-jährigen Bestehen des BJF
„Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist“
Ästhetische Filmbildung als kulturpolitischer Auftrag
Von Wolfgang Schneider
Filmkunst lebt vom Gegenseitigen, vom gegenseitigen Wahrnehmen, vom gegenseitigen Austausch. Filmkunst braucht den Schau-Spieler und den Zuschau-Spieler. Filmkunst ist immer eine Begegnung, eine Begegnung der Sinne, des Sinnierens, der Sinnsuche. Und deshalb ist Filmkunst auch immer kulturelle Bildung.
In den Bildungstheorien werden zumeist drei Erkenntniswege definiert. Neben dem wissenschaftlich-rationalen und dem ethisch-moralischen Zugriff auf die Welt ist es die ästhetische Erfahrung, eben jener sinnlichen Wahrnehmung ist der Film verpflichtet, ebenso der Interpretation von Deutungsmustern und der symbolischen Interaktion. Dass dieser herausragende Aspekt von Film nicht immer ernst genommen wird, dass dieser idealistische Ansatz von Film nicht immer als Auftrag verstanden wird und dass diese existentielle Bedeutung von Film nicht immer konsequent in der Praxis umgesetzt wird, muss an dieser Stelle konstatiert werden. Dabei ist die Zeit reif für den Film, der sich insbesondere an ein junges Publikum wendet. Nie gab es bessere Begründungen, nie gab es in einer bildungs- und kulturpolitischen Debatte mehr Anlass für die Notwendigkeit von Kinder- und Jugendfilmen. Das jüngste und junge Publikum muss Schwerpunkt eines jeden Kinoprogramms werden! Nicht nur zur Weihnachtszeit, ganzjährig; nicht für die Kasse, nicht für die Statistik. Für Kinder und Jugendliche hier und heute!
Film als Schule des Sehens
Kinder- und Jugendfilm kann Anschauung des Lebens sein, Spiegel der Zeit und Anstoß zu einem phantasievollen Umgang mit der Wirklichkeit. Die Geschichten entstammen der Realität der Kleinen und Jungen, es geht um Alltagsgeschichten, um Familie, Schule, Freizeit. Die da auf der Leinwand haben mit denen da im Publikum etwas zu tun.
Kinder- und Jugendfilm kann ein Medium der sozialen Phantasie sein. Die zweite Wirklichkeit lässt erkennen, zeigt auf und spielt vor, zum Staunen und zum Nachdenken. Integriert die große Welt auf die kleine Leinwand. Konflikte werden beim Namen genannt und Probleme offen angesprochen. Im Film ist vieles möglich. Demokratisches Verhalten und soziales Lernen und natürlich das Träumen.
Kinder- und Jugendfilm kann eine Schule des Sehens sein. Prächtige Kulissen und alltägliche Räume charakterisieren die Inszenierungen. Kostüme und Masken finden Verwendung, kleine Puppen spielen ebenso mit wie wilde Tiere, eine Geige oder ein Scheinwerfer. Der Film als Zeichensystem, das es zu entschlüsseln gilt. Im besten Falle eine ästhetische Bildung par excellence.
Kinder- und Jugendfilm kann ein Erlebnis der Gefühle sein. Was ist Freundlichkeit, was Lust, was Ärger, was Angst? Ein Wechselbad ohne nass zu werden, das macht die Qualität guter Filme aus. Mitzittern, mitfreuen, mitleben. Nicht der Gefühle, nicht des billigen Effekts wegen; wegen der Sache, der verhandelten Geschichte, wegen des existentiellen Gegenstandes. Gerade in diesem Zusammenhang bedarf es der besonderen Sorgfalt, wollen die Kinder und Jugendlichen ernst genommen werden.
Kinder- und Jugendfilm kann Erzähltheater sein. Im besten Sinne: Es war einmal. Leih mir dein Ohr. Ich und du und wir. Von damals und heute. Am Anfang war das Wort. Am Ende ist Erfahrung. Abgründige Geschichten; denn auch die Welt der Kinder ist keine heile. Und deshalb gehören Licht- als auch Schattenseiten auf die Leinwand.
Es gibt Kinder- und Jugendfilme, die nicht nur dem Vorurteil entgegentreten, für ein junges Publikum dürfe es in Form und Inhalt ein bisschen billiger sein (analog dem Kinderteller im Restaurant: halber Preis und halbe Portion), sondern die auch in der Lage sind, in ihrer Produktion und Distribution zu beweisen, dass gerade die Noch-Nicht-Erwachsenen durchaus zugänglich sein können für Abstraktes und Absurdes sowie für Existentielles und Experimentelles. Das Maß aller Dinge scheint in diesem Zusammenhang die Wahrhaftigkeit des Künstlerischen zu sein, die Kommunikation zwischen Artefakt und Publikum.
Film als Form von Weltaneignung
Kinder- und Jugendfilme nehmen einen Bildungsauftrag war. Es reicht nicht, Kindern und Jugendlichen Einfaches vorzusetzen. Es reicht nicht, komplexe Sachverhalte herunter zu transformieren auf den kleinsten Nenner in banaler Sprache und einfacher Spielweise. Sie brauchen ein ernsthaftes, komplexes Angebot. Bildung ist eine Form der Weltaneignung, und deshalb muss ein Film für junge Zuschauer deren Sehweise in den Mittelpunkt rücken. Als Zuschauer kann man im Kino Fähigkeiten trainieren, die Grundvoraussetzung von Wissensaneignung sein können: Die Fähigkeit nämlich, die in ihrer Aktualität wahrgenommene Welt entschlüsseln zu können. Man kann im Film, wenn er gut gemacht ist, lernen, Codes zu decodieren, Symbole zu deuten. Diese Form des abstrakten Denkens ist eine Schlüsselqualifikation, die junge Menschen für ihre Zukunftsfähigkeit dringend brauchen.
Das Kino kann ein außergewöhnliches Ereignis sein, das es ermöglicht, alles was sonst gilt, auf den Kopf zu stellen, die gewohnten Gesetze außer Kraft zu setzen. Damit ist eine ganz andere Qualität angesprochen, als die, die wir gewöhnlich dem Begriff des Lernens zuordnen, das doch eine gewisse Beherrschung von Zusammenhängen, Erfahrungen und Wissensgegenständen hervorbringen soll, Orientierung und Übersicht geben soll und die Möglichkeit, das Gelernte reflexiv zu beurteilen und auf die jeweiligen Kontexte zu beziehen. Im Kinder- und Jugendkino geht es – im besten Falle – um ästhetische Vieldeutigkeit, wird – im besten Falle – eine überschneidende Sinnenfreude inszeniert und kann – im besten Falle – ein Erfahrungsraum geschaffen werden, der Beweglichkeit im spielerischen Sinne freisetzt.
Kinder- und Jugendkino kann als außerschulischer Lernort der schulischen Bildung zuarbeiten. Das wäre doch eine große Chance: Die Kombination von schulischer und außerschulischer kultureller Kinder- und Jugendbildung! Kinder- und Jugendkinos könnten Partner von Schule sein, es könnte integraler Bestandteil des Curriculums werden. Es muss selbstverständlich sein, dass die Schule auf das Kino zugeht. Es muss selbstverständlich sein, dass Kino Schule versteht. Es muss selbstverständlich sein, dass beide miteinander kooperieren. Schulkinowochen beweisen hier und da eine solche Zusammenarbeit, spezielle Programme in Kinos belegen ein gegenseitiges Interesse, Medienpädagogen und Jugendfilmclubs planen gemeinsam für Schule und Kino. Kulturelle Bildung ist notwendig, Kinder- und Jugendfilme kann die Not wenden. Die Not der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.
Kino als jugend-, kultur- und bildungspolitischer Auftrag
Vieles von dem, was menschliche Wesen einander mitzuteilen haben und mitteilen müssen, um stabile soziale Strukturen aufzubauen lässt sich in rationaler Sprache allein nicht fassen. Daraus wäre die Notwendigkeit abzuleiten, auch die nichtsprachlichen Kommunikationskompetenzen optimal zu entwickeln, und auch diese bedürfen der Einübung und Verfeinerung. Diesen Bildungsauftrag nimmt seit Jahrzehnten auch der Kinder- und Jugendfilm wahr. Zur Entwicklung eines differenzierten Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen können Spiel- und Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche ebenso beitragen wie zur künstlerischen Geschmacksbildung, indem sie mit ihren mehrdimensionalen, dichterischen Bildern sinnliches Anschauungsmaterial liefern. Allein die Bedeutung, die der Geschichte und ihrer dramatischen Darbietung beigemessen wird, kann dazu beitragen.
Es gibt eigentlich überhaupt nur eine verbindliche Forderung an Inszenierungen für den Kinder- und Jugendfilm, und das ist die nach abgründigen Geschichten, also nach Geschichten, die bis an den Abgrund gehen, die Konflikte nicht bagatellisieren, beschwichtigen, wegkuscheln, sondern in ihrer existentiellen Tragweite den Kindern und Jugendlichen zumuten. Das Leben der jungen Menschen ist kein Spaziergang durch ein Paradiesgärtlein. Es kann die Hölle sein – und wenn man Kinder und Jugendliche im Kino nicht betrügen will, dann gehört die Hölle auf die Leinwand. Wenn der Kinder- und Jugendfilm sich nicht scheut vor der Härte der sozialen Praxis, dann erledigen sich auch die Debatten um den Formenkanon. Kinder und Jugendliche wollen im Kino nicht geschont werden. Sie fühlen sich erst dann wirklich ernst genommen, wenn im Film ihre eigenen Grenzerfahrungen sichtbar und erlebbar werden.
Wenn von Kunst die Rede ist, wird meistens nicht von Kindern gesprochen; wenn von Jugendlichen die Rede ist, geht es meistens nicht um Kunst. Kinder und Jugendliche haben aber ein Recht auf Kunst und Kultur, wie es in Artikel 31 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von den Vertragsstaaten vereinbart wurde. Es geht um die volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und um die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung. Der Kinder- und Jugendfilm ist dabei nur ein Feld der Kulturpolitik, die im besten Sinne auch Kinder- und Jugendpolitik sowie Bildungspolitik sein kann. Kulturelle Kinder- und Jugendbildung bedarf der besonderen Förderung, Infrastrukturen für Filmproduktion und Filmrezeption zu erhalten und auszubauen bedeutet, die Vielfalt der Kultur als Lebensmittel für alle zu stärken und zu beleben.
Filmbildung braucht Kulturpolitik
„Wie kann Kino für jüngere Zielgruppen wieder attraktiver werden?“, fragte vor fünf Jahren eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung im Auftrag der Filmverleiher gemeinsam mit anderen Kinoverbänden, mit Mitteln der Filmförderungsanstalt. Die Untersuchung belegt zwar ein positives Image des Kinos bei den 14-39-Jährigen, macht jedoch zugleich deutlich, dass vor allem Zeit- und Geldmangel Hinderungsgrund für Kinobesuche sind. Es fehle zudem an ausreichend Informationen über das aktuelle Kinoprogramm. Offensichtlich geht es der Kinobranche aber vor allem um den Wirtschaftsfaktor der umsatzstärksten Altersgruppen.
Es geht leider nicht um künstlerische Vermittlung oder um kulturelle Bildung, um Kooperationen in der Kommune oder die oben bereits präferierte Zusammenarbeit in der Jugend- und Schulpolitik. „Es gibt nämlich auch einen großen Teil jugendlichen Publikums, das keinen Zugang zur Filmkultur hat“, sagt Petra Rockenfeller vom Lichtburg-Filmpalast in Oberhausen in einem Experteninterview im Rahmen einer Forschungsarbeit meiner Doktorandin Melika Gothe, die Jugend und Film im zeitgenössischen Kino beforscht. Es fehle an motivierten Lehrenden, qualifizierten Vermittelnden und an der Finanzierung von Filmmachenden, die stärker als Paten für ihre eigenen Filme zu gewinnen wären.
Als Vorstandsmitglied der AG Kino kritisiert sie auch den Digitalpakt zwischen Bund, Ländern und Schulen: „Das funktioniert nicht!“ Auch hier fehle es an medienpädagogischer Kompetenz und filmwissenschaftlicher Kenntnis. Viele der öffentlich geförderten Maßnahmen liefen aneinander vorbei, ein produktives Netzwerk für ästhetische Filmbildung sei noch nicht wirklich auf der Agenda der Kulturpolitik.
Das sehen auch andere so: „Es muss über Konzepte und Methoden der Filmvermittlung im Kino nachgedacht werden.“ In einer gemeinsamen Erklärung von Bundesverband Kommunaler Filmarbeit, „Film macht Schule“ und anderen wie dem Verband der deutschen Filmkritik wird „Ein Neustart für Vision Kino“ propagiert und eine Revision der Film- und Medienbildung für Kinder und Jugendliche gefordert. Es gelte, neue Akzente zu setzen und nicht weiterhin nur als Verwaltungsinstitution zur Verbreitung „vermeintlich jugendaffinen Mainstreams (wie etwa „Spiderman“ oder „Bibi & Tina“)“ zu operieren.
Sowohl die Weimar Declaration „Towards a vital European Children’s Film Culture“ als auch der „Call for the importance to promote film culture & access to film culture notably for young Europeans“ des KIDS Regio Forums 2019 beschreiben die Misere des Kinderfilms und plädieren für kulturelle Diversität und Originalstoffe, machen Vorschläge für Kooperationen und Netzwerke, Distribution und Marketing sowie für Bildungsprogramme und Zugangsmöglichkeiten. Und da kommen Sie ins Spiel! Sie, die Akteure im BJF, die sich regional, national und europäisch verbünden, um herausragende Kinder- und Jugendfilme nachhaltig zu verbreiten. „Gute Filme gemeinsam erleben“, das war und ist Ihr Motto. Und das ist gut so!
Um der Bedeutung von Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft gerecht zu werden, bedarf es also einer Kulturpolitik, die insbesondere den Prozess der Kulturellen Teilhabe vorantreibt. Sie soll die Möglichkeiten persönlicher Freiheit im Sinne von Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung unterstützen. Notwendig dafür ist eine kulturpolitische Pluralität, die sich darum bemüht, das soziale und kulturelle Kapital aller Menschen zu stärken und ihm Anerkennung zu verschaffen.
Kulturpolitik für Kulturelle Bildung will die Rahmenbedingungen dafür schaffen, erhalten und ausbauen, dass Bildung mit und durch Kunst und Kultur gelingen kann. In den Leitzielen eines landesweiten Konzept von 2018 zur Kulturellen Kinder- und Jugendbildung für den Freistaat Sachsen definiert die hiesige Politik beispielsweise einige Standards: Im Freistaat Sachsen bestehe Teilhabegerechtigkeit für Angebote der Kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Inklusion, Interkulturalität und Mobilität seien dabei wichtige Handlungsmaximen. Der Freistaat Sachsen verfüge zudem über bedarfsgerechte Angebote der Kulturellen Kinder und Jugendbildung, mit stabilen Kooperationen und Partnerschaften im Netzwerk von Schule, Jugend und Kultur. Die Angebote der Kulturellen Kinder- und Jugendbildung im Freistaat Sachsen hätten eine hohe Qualität. Gesichert sei die qualifizierte Aus- und Fortbildung von Fachpersonal, welche Angebote der Kulturellen Kinder- und Jugendbildung realisieren. Viel Konjunktiv und reichlich Absichtserklärungen, aber immerhin Eckpunkte für eine kulturelle Kinder- und Jugendbildung.
Kulturelle Bildung wird auch hier im Freistaat als Prozess zur Befähigung von Menschen verstanden, sich mittels kultureller, ästhetischer und künstlerischer Ausdrucksformen mit sich selbst und ihrer Umwelt auseinanderzusetzen und damit letztlich auch zur Gestaltung von Gesellschaft beizutragen. Kulturelle Bildung wird dabei nicht allein auf eine kulturelle Kinder- und Jugendbildung bezogen, sondern als lebenslanger Bildungsprozess gesehen.
Kulturelle Vielfalt als politisches Ziel
Und immerhin die Diversität wird zumindest als ein politisches Ziel definiert. Denn das Phänomen der Zuwanderung führt unweigerlich zu Diskussionen, wie Menschen migrantischer Herkunft integriert werden können und gesellschaftliches Zusammenleben gestaltet. In dieser Debatte spielt das Konzept der kulturellen Vielfalt eine große Rolle, welches in einer UNESCO-Konvention als „mannigfaltige Weise, in der die Kulturen von Gruppen und Gesellschaften zum Ausdruck kommen“ (UNESCO 2005), definiert wird. Bei diesem Gestaltungsprozess können die Künste eine relevante Rolle übernehmen. In Kunst und Kultur liegt nicht nur eine identitätsstiftende Wirkung, sondern der interkulturelle Dialog, der über das Medium Kunst als ästhetischer Raum geführt wird, fördert kritisches, mehrdimensionales Denken und Handeln. Es gilt also, insbesondere seitens öffentlicher Kultureinrichtungen, dieser Vermittlerrolle gerecht zu werden. Dabei ist die interkulturelle Öffnung aufgrund ihres gesellschaftlichen Auftrages nicht mehr nur eine Option, sondern wird zum Handlungsimperativ.
Die Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages hat 2007 in ihrem Abschlussbericht die Rolle der Künste für Individuum und Gesellschaft eindrucksvoll bekräftigt. „Denn wenn irgendwer die Freiheit und Würde des Einzelnen diskutiert, einfordert, in aller Widersprüchlichkeit darstellt, die symbolischen Formen bereitstellt, in denen sie überhaupt gedacht und vor allem erlebt werden können, dann geschieht dies vor allem im Medium der Künste. Durch die Künste werden Individualität und soziale Gebundenheit thematisiert. Damit wirken die Künste weit über die Sphäre der künstlerischen Kommunikation in die Gesellschaft und prägen deren menschliche Sinn- und Zwecksetzung. Und deshalb bedarf es einer Kulturpolitik, die sich als Gesellschaftspolitik versteht und daher Kunst und Kultur ermöglicht, verteidigt und mitgestaltet.“ (Deutscher Bundestag 2008: 61)
Grundlage aller kulturpolitischen Veränderungen ist ein Fundament umfassender Kultureller Bildung. Denn wenn es der Gesellschaft nicht gelingt, durch die Schulpflicht das außerschulische Kulturleben mitzugestalten, dann werden auch weiterhin große Bevölkerungskreise vom Kulturangebot ausgeschlossen bleiben und neue kulturelle Ausdrucksformen – im besten Falle – nur jenseits der öffentlichen Kulturpolitik vegetieren können. Das Plädoyer muss trotz aller redlichen Bemühungen, Kulturelle Bildung in Sonntagsreden als gesellschaftliche Aufgabe zu beschreiben, nach wie vor für eine Implementierung in die Curricula gelten. Es braucht dringendst ein Schulfach Kulturelle Bildung, einen Lernbereich vom Kindergarten bis zur Volkshochschule, einen bildungspolitischen Schwerpunkt auf Kultur im lebenslangen Lernen.
Denn wie es auch immer in der Philosophie begonnen haben mag. Denkbar wäre, dass diejenige Person, die als erste Philosophin oder als erster Philosoph gelten könnte, sich den Fuß an einem Stein stieß und dass dieser Unfall zu folgenden Fragen motivierte: Warum liegt der Stein hier herum und warum ist überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts? Warum ist der Stein so hart und was ist das Wesen des Steins? Warum bin ich davor gelaufen beziehungsweise wie sollte ich eigentlich handeln? Stimmt etwas mit meinen Augen nicht oder was ist hinsehen überhaupt? Man weiß nicht, wie diese Frage damals philosophisch beantwortet wurde, doch sicher ist auch, dass nicht jeder, der hinsieht auch etwas sieht. Denn „Sehen“ ist wahrscheinlich auch immer „Übersehen“, „Versehen“ und „Absehen“. „Hinsehen“, so könnte man unterstellen, ist als solches der Versuch, so wahrzunehmen, dass der transparente Seh-Raum das intransparente Geschehene deutlich werden lässt. Was natürlich die Frage aufwirft, wie man sehen muss, um sehen zu können. In Zeiten der Zeichen, die massenhaft auf uns einstürzen, macht es Sinn, das Sehen zu schulen. Und die beste Methode scheint immer noch die zu sein, Interesse für das zu Sehende zu wecken. Der Film bietet meiner Meinung nach die Möglichkeit, das Sehen in einen Kommunikationsprozess einzubinden. Voraussetzung ist allerdings, dass der Film interessant genug ist, vielleicht sogar neugierig macht, vor allem aber etwas Bedeutsames zu bieten hat. Es braucht ein Motiv, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, die nicht oberflächlich bleibt, sondern den Zuschauer bewegt, an- und umtreibt. Es braucht Motivation, ein Sich-gegenseitig-Bedingen, wie es die Psychologie definiert. Es braucht Substanz, Brisanz und Relevanz, um sich angesprochen zu fühlen und sich Gedanken zu machen. Das alles könnte im Kino verhandelt werden. Wenn die Reform der Filmlandschaft kulturpolitisch endlich angegangen wird.
Und deshalb gilt auch noch nach rund 2 mal 50 Jahren das Credo: „Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist“, einer der bedeutsamen Sätze des Philosophen Walter Benjamin. Und wie hieß es eingangs im gezeigten Trailer: „Wir sind unaufhaltbar, eine andere Welt ist machbar!“ „Youth Unstoppable“, demnächst in Ihrem Kino.
Ich gratuliere dem Bundesverband Jugend und Film herzlichst zum Jubiläum und wünsche: Weiter so! Und ändert Euch!
Der Text ist eine erweiterte Fassung des Festvortrags zum 50-jährigen Bestehen des Bundesverbandes Jugend und Film im Rahmen des 25. Kinderfilmfestivals Schlingel am 16. Oktober 2020 in Chemnitz.
Professor em. Dr. Wolfgang Schneider ist seit mehr als vier Jahrzehnten Mitglied des BJF, war Gründungsdirektor des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland und des Instituts für Kulturpolitik der Stiftung Universität Hildesheim, zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zur Kulturellen Bildung.