1970 bis 2020 – 50 Jahre Bundesverband Jugend und Film
Christel Strobel

Christel Strobel
Gemeinsam mit Hans Strobel Gründung (1979) und Leitung (bis 2013) des Kinderkino München e.V. und Mitherausgeberin (von 1980 bis 2014) der "Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz"
Wie bist Du zum BJF gekommen? Dein erster Kontakt zum BJF?
Hans Strobel (1938-2016) war schon von Anfang an aktiv an organisatorischen und inhaltlichen Aufgaben der BAG / BJF beteiligt, war mehrere Jahre im Vorstand und nahm an den - legendären - jährlichen internationalen Tagungen in Ludwigshafen teil (soweit ich weiß, mit Fachbesuchern aus den Niederlanden und Belgien, aus Frankreich und Ungarn). In einem Jahr (welches, weiß ich nicht mehr genau) nahm ich in Vertretung von Hans teil - ein Erlebnis der besonderen Art, diese „verschworene Gemeinschaft“, wo über die Grenzen hinweg offen und hartnäckig diskutiert, aufregende Filme gesichtet, medienpädagogische Modelle vorgestellt und nicht zuletzt auch gern getrunken wurde.
1979, im UNO-Jahr des Kindes, dachten wir – Hans und Christel Strobel – über ein Kinderkino nach. Im Oktober war es soweit: die Gründung des Kinderkino München e.V. mit sieben Gründungsmitgliedern. Da gab es den BJF, seinerzeit „Bundesarbeitsgemeinschaft für Jugendfilmarbeit und Medienerziehung e.V.“ (BAG), bereits im zehnten Jahr. Das „Kinderkino Olympiadorf / forum 2“ wurde im September 1980 mit dem Film „The Kid“ von Charlie Chaplin eröffnet (das forum 2 war als Kino für die Sportler der Olympiade, München 1972, gebaut worden). Da unsere Hauptaufgabe zunächst in der regelmäßigen Vorführung (Freitag 15.00 Uhr und Samstag 10.00 Uhr) von besonderen Kinderfilmen bestand, war der nichtgewerbliche Filmverleih der BAG mein erster Kontakt.
Was begeistert Dich beim BJF? Was gefällt Dir dort besonders?
Was mir immer gut gefallen hat, war die Teilnahme als BJF-Mitglied an den jährlichen Kinderfilmfestivals in Berlin, Frankfurt am Main, Lübeck, München, Chemnitz. In diesem Festivalreigen hatte das zugleich älteste Kinderfilmfestival in Frankfurt meiner Erinnerung nach in den 70er / 80er Jahren eine besonders lebendige wie lebhafte „Begleitszene“. Die Woche im September war ein felsenfester Termin, oft war diese Zeit noch sonnenstrahlend, aber schon mit einem Hauch von Herbst, und die Diskussionen unter den BJF-Teilnehmern fanden zuweilen draußen am Mainufer statt, oder auf der Freitreppe zum Kino im lichtdurchfluteten Filmmuseum. Jedes Festival hatte (und hat) seinen eigenen Charakter – die wiederkehrenden Gesichter schaffen Vertrautheit, was dem Erfahrungsaustausch zugute kommt und wo auch Neues seinen Platz hat.
Welches besondere Ereignis/Veranstaltung/Aktion verbindest Du mit dem BJF?
Insgesamt 27 Begleitseminare haben wir mit dem BJF veranstaltet, das sind 16 zum Kinderfilmfest / Filmfest München (1988-2004) und 11 zu den sog. Länderfilmfestivals (1985-1996).
Hinter den nüchternen Fakten liegen natürlich jede Menge Erinnerungen an wichtige wie besondere Ereignisse. Ich denke an das Begleitseminar „Der Kinderfilm in China“ zum 11. Kinderfilmfest 1993. Es war das Prinzip, jedes Jahr außer neuen Produktionen auch eine Werkschau zu speziellen Themen bzw. Regieporträts oder Retrospektiven im Rahmen des zwei- bis dreitägigen „BJF-Seminars“ zu programmieren. Mit den chinesischen Gästen, Wang Junzheng, Regisseurin des Films „Ein Brief vom Himmel“, und Zhang Yu-qiang vom Filmstudio Peking, gab es eine Panne: Da die deutsche Botschaft in Peking den offiziellen Filmfest-Gästen (Einladung lag vor) das Visum zu spät ausstellte, konnten sie nicht rechtzeitig abfliegen und landeten deshalb zwei Tage später und fanden sich - auf schnellstem Wege vom Münchner Flughafen ins Olympiadorf - im Seminar wieder… Der Rückflug am nächsten Tag konnte nicht verschoben werden, so hatten wir schließlich Zweifel ob der Nachhaltigkeit ihres Gastspiels. Das Filmgespräch selbst aber hinterließ lang anhaltende Eindrücke und es gibt einen wunderbaren Eintrag ins Gästebuch des Kinderkinos: „Wir sind uns in München begegnet – ’Wenn man innerhalb der Meere Freunde hat, ist die weiteste Entfernung wie Nachbarschaft’ (chinesisches Sprichwort).“
Zehn Jahre später, beim 21. Kinderfilmfest 2003, blieb der Gast gleich ganz aus. Wir hatten das Begleitseminar zum Regie-Porträt Mohammad Ali Talebi, Teheran, vorbereitet. Nach mehreren Kurzfilmen für das „Institut für die intellektuelle Entwicklung der Kinder und Jugendlichen“ (Kanoon) wurde er mit seinem ersten langen Spielfilm „Das Stiefelchen“ (1992) auch international bekannt. Seine Filme erzählen alltägliche Ereignisse von großer Wichtigkeit im Leben der Kinder, wobei Talebi besonderen Wert auf Glaubwürdigkeit und Authentizität legt, gedreht an Originalschauplätzen, meist in der Altstadt von Teheran, mit Kindern, die mit großer Natürlichkeit überzeugen. Es sind einfache Geschichten, die Einblicke in eine andere Kultur geben. Außer „Stiefelchen“ hatten wir „Tick Tack“ (1994), „Ein Sack Reis“ (Iran/Japan,1996) und „Der Wind und die Weide“ (1999) im Programm. Mohammad Ali Talebi sollte auf Einladung vom Filmfest zum Begleitseminar kommen, und ich erinnere mich, dass wir bis zuletzt nicht wussten, ob er aus Teheran kommt und was ihn daran hindert – schließlich kam er nicht, was wir alle bedauerten.
Aber drei Jahre davor, beim 18. Kinderfilmfest 2000, erfuhren wir von unserem Ehrengast Majid Majidi, dem das Filmfest eine Werkschau gewidmet und seine Familie mit eingeladen hatte (von seiner Frau und seiner Tochter, beide Filmregisseurinnen, waren dort ebenfalls Filme zu sehen), viel und sehr eindrücklich zum Thema des Begleitseminars „Regie-Porträt Majid Majidi und das Kinderfilmschaffen im Iran“ am Beispiel seiner Filme „Kinder des Himmels“, „Die Farbe des Paradieses, „Baduk“ und „Der Vater“.
Ein herausragendes Ereignis war die Begegnung mit Gila Almagor aus Israel, Schauspielerin, Filmproduzentin und Autorin, deren Filme „Aviyas Sommer“ und „Unter dem Maulbeerbaum“ im Begleitseminar zum 15. Kinderfilmfest 1997 tief beeindruckten, während es nach der Vorführung von „Aviyas Sommer“ mit einer zunächst nicht sonderlich interessierten Berufsschulklasse 16-/17-Jähriger zu einem überaus engagierten Gespräch kam, das Gila Almagor mit den Jungs dieser Klasse führte.
Im Auswertungsbericht wird die kontinuierlich gewachsene Struktur der Begleitseminare deutlich: „In Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Jugend und Film e.V. fand vom 4. bis 6. Juli ein Begleitseminar statt. Zum Hauptthema „Kinder- und Jugendfilmproduktion in Israel“ referierte fachkundig Gila Almagor, Tel Aviv. Die Moderation hatte Prof. Dr. Wolfgang Schneider, Vorsitzender von ASSITEJ Deutschland (Vereinigung der Kinder- und Jugendtheater). Die Seminarleitung lag bei Hans Strobel, Kinderfilmfest + Kinderkino München e.V., und Walter Stock, Bundesverband Jugend und Film e.V. Das Seminar war mit 50 Teilnehmern (Multiplikatoren der außerschulischen Jugend- und Bildungsarbeit aus dem gesamten Bundesgebiet und Journalisten) sehr gut besucht und fand großes Interesse. Ein ausführlicher Bericht erscheint in der Fachzeitschrift ‚Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz’“.
Bei Durchsicht des Archivs stellt man immer wieder mit Erstaunen fest, welche - auch „erwachsenen“ - Themen in die Seminare mit einbezogen wurden. „Sterben, Tod und Trauer im Kinderfilm“ war das Thema des 16. Kinderfilmfests 1998, mit dem sich das traditionelle Begleitseminar des BJF beschäftigte. Ergänzend dazu kam dann der KJK-Sonderdruck „Vom Abschiednehmen und Traurigsein“. Für das Filmprogramm zum Begleitseminar waren starke Filme ausgewählt worden, u.a. der intensiv diskutierte „Ponette“ von Jacques Doillon, und „Hand aufs Herz“ von Jacques Fansten, beide französische Produktionen. Oder zum Seminar 1991 ein leidenschaftlicher Appell von Hans für die „Wiederentdeckung und Pflege des Kinos in seinen vielfältigen pädagogischen, kulturellen und sozialen Formen. Kino als ein Ort des aktiven und ungestörten Sehens; Kino als Angebot und Möglichkeit, autonome Erfahrungen mit der vermittelten Welt zu machen, Situationen nachzuempfinden und emotional erleben zu können, Qualität kennenzulernen und sich kritisch mit dem Medium Film auseinanderzusetzen, Film als eine Kunstform kennenzulernen.“
Aus der Ankündigung in der Programmzeitung zum 22. Kinderfilmfest 2004:
„Begleitseminar für Multiplikatoren der Kinderkino- und Kulturarbeit in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Jugend und Film e.V.
Filmvorführung „Die Blindgänger“ + Werkstattgespräch „Soll man für Kinder anders schreiben?“ mit den Regisseuren und Autoren Bernd Sahling und Helmut Dziuba / Referat „Ein Filmkanon für Kinder – Verbindlicher Leitfaden oder offenes Angebot?“ – Referent: Klaus-Dieter Felsmann, Publizist und Autor
Anmeldung: LAG Film Bayern e.V., Walter Stock - Information: Kinderkino München e.V.
Die Seminarteilnehmer erhalten eine Gästeakkreditiereung für das Filmfest München.“
Mit dem 22. Kinderfilmfest endete die „Ära Hans Strobel“, der von 1983 - 2004 für die Gesamtleitung verantwortlich war und mit einem über die vielen Jahre engagierten und kompetenten Team und in Kooperation mit dem BJF das aktuelle internationale Kinderfilmschaffen vorstellte, ergänzt durch filmische Wiederentdeckungen und Filmgespräche. Katrin Hoffmann übernahm die Leitung vom Kinderfilmfest.
Was die Gästeakkreditierung für die Seminarteilnehmer betrifft, so haben sie damit seit 2003 freien Eintritt für das gesamte Filmfest. Das beruhte auf dem von der Filmfestleitung aus organisatorischen Gründen seinerzeit beschlossenen Ortswechsel vom forum 2 / Olympiadorf zum Gasteig. Diese Akkreditierung ist einerseits ein attraktives Angebot, dennoch kein Ersatz für die optimalen Räumlichkeiten des forums im Olympiadorf, in denen insgesamt 16 mehrtägige, intensive wie nachhaltige Begleitseminare zum Kinderfilmfest stattfanden. Im Festivalzentrum Gasteig (Carl-Amery-Saal, vormals Vortragssaal der Bibliothek), dem Kinderfilmfest-Spielort ab 2003, sind die Bedingungen für ein Begleitseminar schwieriger und es musste eine neue Struktur gefunden werden.
Bei den Länderfilmfestivals, die tatkräftig vom BJF durch die Seminare begleitet wurden, sind zwei als besondere Ereignisse in die Geschichte eingegangen: Das Festival des DDR-Kinderfilms vom 26. Juli - 4. August 1985, also unmittelbar nach dem Kinderfilmfest!
Wir formulierten unsere Intention mit dem Programm: „… An exemplarischen Beispielen wird die Entwicklung des Kinderfilms aufgezeigt. Gleichzeitig möchten wir dazu beitragen, das Nachbarland für unsere Kinder verständlicher zu machen, denn Filme geben neben ihrem eigentlichen Inhalt immer auch Auskunft über die Menschen eines Landes, deren Lebensweise, Wünsche und Vorstellungen. Solche Veranstaltungen tragen mit dazu bei, Vorurteile abzubauen.“
Und die Gäste aus der DDR , Christa Kozik (Kinderbuchautorin, Potsdam), Heiner Carow (Regisseur, u.a. von „Sie nannten ihn Amigo“ und „Reise nach Sundevit“, Berlin) und Helmut Dziuba (Regisseur u.a. von „Jan auf der Zille“, „Sabine Kleist, 7 Jahre“, Dresden) schrieben ins Gästebuch: „Diese Tage waren ein Plädoyer für die Phantasie und die Verantwortung, die wir für die Kinder tragen. Das verbindet uns. Wir danken für die große Aufmerksamkeit, die unserem DDR-Kinderfilmschaffen entgegengebracht wurde.“
Ein Jahr später, vom 17. – 26. Oktober 1986, hatten wir eine kleine Delegation aus der UdSSR zu Gast beim Festival des sowjetischen Kinderfilms und zeigten und diskutierten Filme wie „Märchen einer Wanderung“ von Alexander Mitta (Moskau) und „Ein Mann von acht Jahren“ von Usman Saparow (Aschchabad, Turkmenistan). Wir erinnern uns an ihre Landung am Münchner Flughafen im dichten Nebel, wo wir die dreiköpfige Delegation (außer Mitta und Saparow noch der Autor Semjon Listov) abholen wollten und bangten wegen der vielen Umleitungen - und das einzige Flugzeug an jenem Abend war die Maschine aus Moskau, die sicher am Boden ankam… Es waren tief beeindruckende, im besten Sinne freundschaftliche drei Tage – ein Gefühl auf beiden Seiten, das Alexander Mitta im Gästebuch festhielt: „Große Freude bereitet uns die ‚Umarmung’ von den richtigen und engagierten Freunden im Kinderkino - eine ganz besondere Atmoshphäre, die Impulse gibt für den künstlerischen Austausch.“
Zu all diesen unvergessenen Erlebnissen hat der Bundesverband Jugend und Film durch die Kooperation ganz wesentlich beigetragen und war über die vielen Jahre ein zuverlässiger Partner. Zu danken ist hier vor allem Reinhold Schöffel und Walter Stock.
Was wünschst Du dem BJF für die Zukunft?
In Anbetracht seiner erfolgreichen Geschichte und seiner vielschichtigen Leistungen für die außerschulische Filmarbeit, Filmbildung und Medienpädagogik möchte man eigentlich sagen: Weiter so! Wäre da nicht auch bei bestimmten Projekten eine Bürokratisierung spürbar, die zu Lasten der inhaltlichen Arbeit geht. Hier wünsche ich dem BJF praxisnahe, engagierte Partner, die am gleichen Strang ziehen, denn Medienkompetenz - das Bewusstsein, wie Medien wirken - ist in Zukunft wichtiger denn je. Und nicht zuletzt wünsche ich der Clubfilmothek, die ihr Angebot mit Blick auf den aktuellen Mediengebrauch schon weiterentwickelt hat, weiterhin die nötigen Finanzmittel zum Erwerb von Lizenzen qualitativ herausragender Filme für das junge Publikum.